Warum die großen Beratungen dasselbe Schicksal ereilen wird, wie einst die Uhrmacher, die Webstühle, die Möbelmanufakturen und Dosenhersteller
Die Industrialisierung war nie ein singuläres Ereignis, sondern eine Abfolge von Entscheidungen: Maschinen annehmen – oder von ihnen ersetzt werden. Heute steht die Wissensarbeit vor der identischen Wahl.
Als der junge Arthur Junghans 1872 aus Amerika in den Schwarzwald zurückkehrte, brachte er mehr mit als Anzug und neuen Umgangsformen. Er hatte Fließbänder gesehen, Matrizen, Stanzmaschinen – vor allem aber eine Idee: Wenn Uhrenbauteile identisch sind, muss man sie nicht mehr einzeln feilen. Schon wenige Jahre später spuckten seine Werkhallen in Schramberg Tag für Tag Tausende Wecker aus; das Ticken war der Pulsschlag einer neuen Ära.
Die Nachbarn betrachteten den rasenden Ausstoß mit Skepsis. Viele vertrauten weiter auf das handgeschnitzte Räderwerk ihrer Heimwerkstätten. Man verdiente ja noch gut daran – Holzuhren hatten in Übersee einen geradezu exotischen Reiz. Warum also riskieren, was sich bewährt hatte? So begann die unmerkliche Selbstfesselung der Schwarzwälder Uhrmacherei: ausgerechnet der eigene Erfolg wurde zur Bremse.
Wir begegnen diesem Muster heute wieder, nur dass sich die Späne nicht mehr auf Werkbänken, sondern auf Tastaturen sammeln. In Großraumbüros, Consultingetagen und Shared‑Service‑Centern entstehen Monat für Monat Abermillionen Exceltabellen, Statusfolien und Vertragsentwürfe. Ihre Hersteller – die Schreibtischhengste, Manager, Consultants – gleichen darin den Holzuhrenmeistern von einst: Sie pflegen eine aufwendige Handarbeit, die längst maschinell erledigt werden könnte.
Schon jetzt taxiert das Statistische Bundesamt den deutschen Dienstleistungssektor auf rund siebzig Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung.¹ Eine tiefere Bohrung zeigt jedoch, dass knapp die Hälfte dieses Volumens aus Tätigkeiten besteht, die wiederkehrend, regelgebunden, quantifizierbar sind – kurz: Algorithmusfutter. Die Unternehmensberatung McKinsey errechnet, dass in Verwaltung und Beratung drei bis vier von zehn Arbeitsstunden einem hohen Automatisierungsrisiko unterliegen.²
Wäre das Dienstleistungsgewerbe ein Stoffballen, es läge bereits eingelegt unter der Schneiderschere der künstlichen Intelligenz.
1. Die verdrängte Lehre der Spinning Jenny
Gut ein Jahrhundert vor Junghans ließ James Hargreaves’ Spinning Jenny das britische Handspinnrad alt aussehen. Ihre acht Spulen machten die Heimspinner, die Baumwolle geduldig zwischen den Knien drehten, über Nacht zu Traditionshütern ohne Zukunft. Die Revolution kam nicht, weil Spinner unfähig waren, sondern weil Maschinen besser skalieren als Menschen.
Dasselbe Prinzip gilt heute für die White‑collar‑Tätigkeiten, die in Firmenprospekten gern als „hochspezialisierte Leistungen“ firmieren, in Wahrheit aber routinierte Datenumschichtungen sind: Forecasts, Zeiterfassung, Zertifikats‑ und Lizenzpflege, Skill‑Mapping oder die monatliche Sammelrechnung für ein Outsourcing‑Team.
Nicht die hohe Schule des Denkens unterscheidet den Berater vom Algorithmus, sondern die Beharrlichkeit der Wiederholung. Und in der Wiederholung liegt der Keim der Automatisierung.
2. Warum Theorie und Praxis sich diesmal einig sind
Der Streit zwischen Ökonomen entzündet sich selten am Ob des Fortschritts, sondern am Wie der Verteilung. Klassik, Neoklassik, Keynesianismus, sogar marxistische Traditionen gestehen der Maschine eine enorme Wohlfahrtswirkung zu – sie zanken allenfalls darüber, wer wieviel vom Kuchen erhält. Seit Baumols berühmter Kostenkrankheit warnen Volkswirte davor, Dienstleistungen könnten inflationsgetrieben immer teurer werden, weil ihre Produktivität stagniere.³ Die digitale Maschine, die digitale Automatisierung wäre die überfällige Therapie.
Selbst die ökologische Ökonomik widerspricht nicht, dass weniger menschliche Routinearbeit Ressourcen freisetzt – wenn Energie und Rechenleistung nachhaltig gewonnen werden.
3. Die heimliche Geistesfabrik
Betritt man den Maschinenraum einer Großberatung, sieht man keine Zahnräder, hört kein Pfeifen der Dampfventile. Die Mechanik steckt in Prozessen: Offsites zur Ressourcenplanung, Gantt‑Charts für das Skill‑Inventory, tagelange Audits zum Nachtrag einer Lizenznummer. Es ist die Fabrik ohne Rauchfang, und ihr Fließband ist das PowerPoint‑Deck.
Gegen diese Fabrik richtet sich nun eine zweite, lautlosere: Cloud‑Services, die jeden Projektstatus aus Tickets generieren; Sprachmodelle, die Verträge prüfen, Summaries schreiben, Risiken gewichten; RPA‑Bots, die Rechnungen stellen und verbuchen.
Die Vorstände wissen es. Und sie wissen auch, dass eine konsequente Einführung solcher Systeme binnen Monaten zehntausende abrechenbare Stunden aus den Bilanzen tilgen würde. Was damals der Holzradmacher im Schwarzwald fürchtete – den Verlust seines Preises –, fürchten heute die Partner der Beratungsgiganten: den Einsturz ihrer Tagessatzpyramide.
Also wird retardiert: Pilotprojekte scheitern „wegen Change‑Management“, Chatbots landen „aus Compliance‑Gründen“ in der Schublade, das Self‑Service‑Portal bleibt Beta.
4. Der absehbare Kollaps
Historisch endet diese Taktik stets gleich. Der Markt wartet nicht auf die Bedenkenträger. Junghans’ Wecker verdrängten die Kuckucksuhren, Fords Fließband das Karosseriewerk der Kutschbauer.⁴ Heute entstehen Beratungen wie Kehrwasser mit 90 Prozent Backendautomatisierung und einem Personalstamm, der mehr Produktmanager als Power‑Point‑Architekten kennt.
Sie liefern in einer Woche, wofür klassische Player drei verbuchen. Ihr Angebot: Ergebnis statt Aufwand. Auftraggeber haben kein nostalgisches Verhältnis zu Stundenzetteln; sie kaufen Problemlösung.
Mit jedem automatisierten Prozentpunkt sinkt die Eintrittshürde für neue Konkurrenten. Längst bieten Startups automatisierte Forecasting‑Engines zur Miete, schaffen digitale Skillzwillinge für faire Beurteilungen von Mitarbeitern, lassen Complianceprüfungen im Hintergrund laufen. Die Big Four hoffen, diese Tools in ihre Portfolien integrieren zu können – ohne die bestehende Belegschaft zu verprellen. Es ist, als hätte ein Schwarzwälder Meister 1880 einfach eine Spinning Jenny in die Stube gestellt und gehofft, damit den Charme der Handarbeit zu bewahren.
5. Der soziale Boomerang
Wird der Wandel dennoch vollzogen, kommt er ruckartig. Dann entlässt eine Beratung zehntausende Mitarbeiter, der Aktienkurs sackt ab, Schlagzeilen von „Sozialkahlschlag“ machen die Runde. Vertrauen, einst teuer eingekauft, verpufft in Empörung. Genau diese Furcht hält heute viele Führungsetagen davon ab, ernsthaft zu automatisieren – und verlängert so nur das Leiden.
Man vergisst: Auch im Schwarzwald war es nicht die Maschine, die den sozialen Schmerz verursachte, sondern das Zögern. Hätte man früher rationalisiert, wären Umschulungen möglich gewesen; stattdessen kollabierte eine ganze Region binnen weniger Jahre.
6. Ein anderer Ausgang ist möglich
Der tertiäre Sektor muß nicht in die Verelendung rutschen. Maschinen schaffen Wohlstand, wenn man sie in den Dienst des Menschen stellt. Was heute an White‑collar‑Routinen verschwindet, setzt Köpfe für echte Problemlösung frei: Pflege, Bildung, Energiewende. Doch das verlangt Mut: Gewinne neu zu definieren, Geschäftsmodelle radikal umzubauen, Tagessätze gegen Lizenzgebühren zu tauschen.
Die Wahl ist dieselbe wie 1872: Man kann die Fließbänder zerschlagen oder sie bauen. Wer sie baut, definiert die Zukunft der Arbeit. Wer zögert, schreibt nostalgische Fußnoten in den Geschäftsbericht – und findet seine Produkte später im Museumsshop.
Quellen & weiterführende Literatur
- Statistisches Bundesamt: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen 2023 (BIP nach Wirtschaftsbereichen).
- McKinsey Global Institute: Harnessing Automation for a Future That Works, 2022.
- William J. Baumol: The Cost Disease, Yale University Press 2012. Wikipedia:
- Die Erfindung des Schlachtplans. Archiviert vom Original am 3. April 2015; abgerufen am 17. Februar 2022.
Weiterführende Literatur
- Deutsches Uhrenmuseum Furtwangen: Blog‑Dossier Schwarzwälder Uhrmacherei (2018)
- Ronald Inglehart: The Silent Revolution, Princeton University Press 1977.
- Carl Benedikt Frey & Michael Osborne: The Future of Employment, Oxford 2017 (PDF)
- D. S. Landes: The Unbound Prometheus, Cambridge University Press 1969.
- OECD: The Future of Work – OECD Employment Outlook 2023
- Erik Brynjolfsson & Andrew McAfee: Race Against the Machine, MIT Press 2011
- Ulrich Beck: Risikogesellschaft, Suhrkamp 1986.
- Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten, Suhrkamp 2017.