Menschen hängen an ihrer monotone Arbeit – und was Organisationen daraus lernen können

In vielen Unternehmen sind es nicht die kreativen Sonderprojekte, die langfristig laufen, sondern die scheinbar langweiligen Routinen. Prozesse, deren Abläufe seit Jahren feststehen, werden von denselben Mitarbeitenden mit bemerkenswerter Stabilität ausgeführt. Die Fluktuation ist niedrig, die Effizienz hoch. Irritierend nur: Warum scheint es für viele ein Vorteil zu sein, wenn sich möglichst wenig verändert?

Problem: Innovationsdruck trifft auf Widerstand

Gerade im Kontext von Change Management, Digitalisierung und zunehmender Automatisierung erleben Organisationen, dass Teile der Belegschaft sich bewusst gegen Veränderung stellen. Nicht aus Trägheit, sondern aus Überzeugung. Während Innovationsabteilungen neue Tools einführen oder Gamification für neue Arbeitsformen erproben wollen, verteidigen Teams in Verwaltung, Buchhaltung oder Bestands-IT ihre etablierten Vorgehensweisen mit Nachdruck. Innovation wird als Risiko gelesen, nicht als Chance. Dies erschwert nicht nur Modernisierungsprojekte, sondern fördert auch verdeckte Demotivation.

Zweifel an Maslow – Sicherheit als Trugschluss?

Nach der Bedürfnispyramide von Maslow suchen viele Menschen primär nach Stabilität. Repetitive Aufgaben geben Sicherheit, Vorhersehbarkeit und Kontrolle – gerade in Lebensphasen mit hoher externer Belastung. Doch diese Sicherheit ist nicht immer intrinsisch gewollt. Vielmehr lässt sich beobachten, dass Menschen sich mit dem zufrieden geben, was ihnen die Umstände als machbar erscheinen lassen. Nicht aus Zufriedenheit, sondern aus einem Mangel an Mut.

Die Annahme, dass Stabilität ein grundlegendes Bedürfnis sei, lässt sich hinterfragen. Moderne Gesellschaften zeigen wenig kollektiven Mut: Innovation wird skeptisch beäugt, Risikobereitschaft sanktioniert. Die stabile Popularität konservativer Parteien in demokratischen Gesellschaften deutet strukturell auf diese kulturelle Präferenz für Sicherheit hin – auch wenn das kein kausaler Beleg ist. Es bleibt Raum für die These: Es sind nicht die Menschen, die grundsätzlich nach Sicherheit streben, sondern Gesellschaften, die Sicherheit zum höchsten Gut erklären – und dadurch Mut entwerten.

Ready statt ruhig

Eine alternative Perspektive wäre: Sicherheit bedeutet nicht Ruhe, sondern Bereitschaft. Wer „ready“ ist – vorbereitet, kompetent, beweglich –, erlebt Veränderung nicht als Gefahr, sondern als Bestandteil des Normalen. In einer solchen Kultur würde Innovation nicht stören, sondern implizit dazugehören. Das könnte erklären, warum in Kontexten mit starkem psychologischen Sicherheitsgefühl (etwa in resilienten Teams) auch komplexe Veränderungsprozesse produktiv verlaufen. Ein solches Mindset zu fördern – auch im Hinblick auf Automatisierung, digitale Transformation und neue Führungsmodelle – ist zentral für zukunftsfähige Organisationen im Mittelstand.

Flow ohne Innovation

Csikszentmihalyi (1990) beschreibt Flow als Zustand zwischen Unter- und Überforderung. Auch repetitive Aufgaben können Flow erzeugen – etwa wenn sie mit hoher Kompetenz ausgeführt werden. Menschen mit geringem Autonomiebedürfnis erleben Routinejobs häufig als befriedigend, solange die sozialen und strukturellen Bedingungen stimmen (Warr, 2002).

Boreout als Grenzfall

Die Forschung zu Boreout (Stock-Homburg & Werder, 2017) zeigt jedoch: Wird Routine zur Dauerunterforderung, entstehen psychosomatische Beschwerden, Zynismus und innerer Rückzug. Die Grenze ist individuell: Was für den einen stabilisierend wirkt, kann für andere zur psychischen Belastung werden.

Sozialisierung und Organisation

Organisationen sind oft auf Reproduktion ausgelegt. Karl Weick (1995) beschreibt sie als Systeme, die Unsicherheit reduzieren. Kreative Abweichung wird schnell als Störung codiert. Über Jahre gewachsene Routinen erhalten Status und Schutzmechanismen. Wer sie infrage stellt, riskiert soziale Sanktion. Innovation wird dadurch nicht nur strukturell, sondern auch kulturell ausgebremst – insbesondere dort, wo kein wirksames Tooling für gute Arbeit und keine Strategien zur Begleitung digitaler Transformation etabliert sind.

Exploitation vs. Exploration

Benner & Tushman (2003) zeigen in ihrer Arbeit zur Ambidextrie, dass viele Organisationen ihre Ressourcen auf „Exploitation“ konzentrieren – also auf die Optimierung bestehender Prozesse. „Exploration“ – das Ausprobieren neuer Ideen – wird dagegen als ineffizient und risikobehaftet bewertet. Mitarbeitende internalisieren diese Bewertung. Wer sich in Schema-F-Aufgaben sicher fühlt, riskiert durch Innovation den eigenen Status.

Einsichten für die Praxis

  • Nicht jeder will Innovation. Stabilität ist für viele ein funktionales Arbeitsmotiv, kein Defizit.
  • Routine ist nicht gleich Langeweile. Für manche Menschen ist sie Voraussetzung für Konzentration, Flow und Selbstwirksamkeit.
  • Organisationen verstärken diese Muster. Über Belohnungssysteme, implizite Normen und Mikropolitik wird Kontinuität oft stärker gefördert als Innovation.
  • Mut ist kein Persönlichkeitsmerkmal, sondern ein Systemphänomen. Organisationen müssen nicht nur Räume für Innovation schaffen, sondern auch den Mut ermöglichen, sie zu betreten.
  • Kulturwandel und Automation gehören zusammen gedacht. Ohne kulturelle Arbeit verpufft technologische Erneuerung – gerade in Transformationsprozessen in der Führung und Digitalisierung.

Wer kulturelle Veränderung will, muss diese Systemeffekte berücksichtigen. Es reicht nicht, Innovationsfreude zu postulieren – man muss auch Sicherheit für die mitnehmen, die sich in der Stabilität eingerichtet haben.

Ausblick: Anschlussfragen

Wie lassen sich Routinen erhalten, ohne Innovation zu blockieren? Welche Rolle können partizipative Formate spielen, um Risiken für Veränderung sozial abzufedern? Und: Was wäre eigentlich eine Organisation, die beides kann – kontinuierliche Exploitation und selektive Exploration? Die Antworten darauf liegen nicht in neuen Tools, sondern im Design organisationaler Bedingungen.


Quellen:

  • Benner, M. J., & Tushman, M. L. (2003). Exploitation, exploration, and process management.
  • Csikszentmihalyi, M. (1990). Flow: The Psychology of Optimal Experience.
  • Demerouti, E., Bakker, A. B., Nachreiner, F., & Schaufeli, W. B. (2001). The Job Demands-Resources Model.
  • Stock-Homburg, R., & Werder, S. (2017). Boreout. Ursachen und Konsequenzen von Unterforderung.
  • Warr, P. (2002). Psychology at work.
  • Weick, K. E. (1995). Sensemaking in Organizations.

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