Über Jahrzehnte folgten gesellschaftliche, kulturelle und politische Sphären ähnlichen Mustern der Organisation: wenige Akteure entschieden, was sichtbar, relevant und wirtschaftlich erfolgreich wurde. Diese Gatekeeper – Redakteure, Produzenten, Parteiführungen, Studiochefs – sorgten für Stabilität und Orientierung, aber auch für Abschottung. Wer in ihren Zirkeln nicht vorkam, blieb unsichtbar. Das Internet hat dieses Prinzip untergraben. In einer dezentralisierten Medienwelt verliert nicht nur das Vertrauen in Institutionen an Bedeutung, sondern auch die Infrastruktur, die das Vertrauen trug. Der Mainstream, verstanden als kollektive Öffentlichkeit, löst sich auf.
Was folgt, ist kein Machtvakuum, sondern eine tektonische Verschiebung. Die alten Hierarchien zerfallen, und in allen Bereichen entstehen neue, oft chaotische Ökosysteme, in denen Sichtbarkeit nicht mehr über Zugang, sondern über Resonanz organisiert wird. Dieses Muster zeigt sich besonders deutlich in der Musikindustrie – und lässt sich von dort aus auf Politik, Medien und Gesellschaft übertragen.
Von der Gegenkultur zur Industrie
Rockmusik galt lange als Symbol des Aufbegehrens gegen Konvention und Autorität. Doch der „echte“ Rock, der sich als Stimme der Straße verstand, war früh Teil eines ökonomischen Systems, das Authentizität verkaufte wie ein Produkt. In den 1990er Jahren wurde Rebellion zum Format: Stadiontouren, MTV-Rotationen, kalkulierte Provokation. Wer sich als „gegen den Mainstream“ verstand, konsumierte ihn in Wahrheit mit. Die Szene war eine Marke – und das Etikett „echt“ eine Verkaufsstrategie.
Die Macht lag in einem Netzwerk aus Labels, Produzenten, Radiostationen und Musikjournalisten. Der Zugang war begrenzt, die Wege bekannt. Hinter der Inszenierung von Individualität stand eine oligarchische Struktur: ein geschlossener Kreis, in dem persönliche Kontakte und Loyalität oft mehr wogen als musikalische Innovation.
Dann kam das Internet. Mit YouTube, SoundCloud und später TikTok fiel das Tor zur Öffentlichkeit. Künstlerinnen und Künstler brauchten keine Gatekeeper mehr, um gehört zu werden. Die Studios verloren ihr Monopol, und die einstigen Rituale – Demos verschicken, Produzenten beeindrucken, Radiopromoter umwerben – wirkten plötzlich anachronistisch.
Heute kann jeder veröffentlichen. Doch diese Demokratisierung brachte kein gerechtes System hervor, sondern ein neues, algorithmisches: Sichtbarkeit wird durch Daten entschieden, nicht durch Auswahl. Wer die Logik der Plattform versteht, hat Macht – unabhängig von musikalischem Talent oder handwerklicher Reife. In diesem Spannungsfeld bewegen sich nun Bands wie Turnstile oder KI-Projekte wie Bleeding Verse: Sie nutzen moderne Kanäle ohne nostalgische Berührungsängste und verbinden technische Innovation mit einer neuen Form von Authentizität.
Damit ist das ursprüngliche Versprechen des Internets – mehr Chancengleichheit – zumindest teilweise eingelöst. Doch die alte Ordnung der Gatekeeper ist damit nicht einfach verschwunden. Sie wurde ersetzt durch eine Vielzahl kleiner Machtzentren: Influencer, Kuratoren, Empfehlungsalgorithmen. Der Unterschied: Die Mechanik ist sichtbar, aber kaum steuerbar.
Algorithmische Räume: Das neue Spiel der Sichtbarkeit
Ein zentrales Element der gegenwärtigen Medien- und Gesellschaftsstruktur ist die Rolle algorithmischer Empfehlungssysteme – etwa auf Plattformen wie TikTok.
In der Studie How Social Media Can Solve the Problem of “Filter Bubbles” Under the New Media Algorithm Recommendation Mechanism – The Example of TikTok (Chen, 2023) wird gezeigt, wie diese Mechanismen nicht nur die Informationsflut kanalisieren, sondern zugleich sogenannte Filterblasen erzeugen:
Nutzer*innen sehen bevorzugt Inhalte, die ihrem bisherigen Klickverhalten entsprechen – wodurch Vielfalt abnimmt und die Wahrnehmung gesellschaftlicher Realität zunehmend fragmentiert wird.  
Die Konsequenz: Die Vielfalt öffentlicher Debatten schrumpft, weil Algorithmen Inhalte priorisieren, die das Engagement erhöhen – meist Empörung, Identitätsbestätigung oder Wiedererkennung. Damit verschiebt sich der öffentliche Diskurs von pluraler Auseinandersetzung zu emotionaler Rückkopplung.
Das stellt nicht nur ein kulturelles, sondern auch ein strategisches Risiko dar: Unternehmen, Parteien oder Medien, die Sichtbarkeit gewinnen wollen, geraten in denselben Sog wie ihre Zielgruppen – sie müssen Emotionen bedienen, um gehört zu werden.
Doch Chen zeigt auch eine Gegenrichtung auf: Algorithmische Systeme könnten Diversität bewusst fördern, wenn sie ihre Empfehlungskriterien transparenter machen und Nutzer*innen mehr Steuerung über ihre Feeds geben. Das würde Algorithmen von bloßen Verstärkern zu kuratierenden Vermittlern wandeln – von Werkzeugen der Bestätigung zu Werkzeugen der Entdeckung.
Für die Gesamtdynamik, die dieser Artikel beschreibt, bedeutet das:
Nicht allein die Entmachtung klassischer Gatekeeper ist entscheidend, sondern die Frage, wer heute die algorithmische Sichtbarkeit steuert.
Bands, Bewegungen, Unternehmen oder politische Akteure, die diese Mechanik verstehen, verändern nicht nur ihre Kommunikation – sie verschieben die Grundlagen dessen, wie Gemeinschaft überhaupt entsteht.  
Der politische Parallelfall
Ähnliche Bewegungen zeigen sich in der Politik. Parteien, Medienhäuser und Intellektuelle bildeten über Jahrzehnte ein diskursives Dreieck, das die Deutungshoheit über gesellschaftliche Themen besaß. Populistische Bewegungen wie MAGA in den USA oder die AfD in Deutschland konnten nur deshalb entstehen, weil dieses Dreieck Risse bekam.
Die traditionellen Akteure hielten zu lange an ihren Kommunikationsritualen fest – Pressekonferenz, Leitartikel, Talkshow. Währenddessen entstanden neue Öffentlichkeiten auf Facebook, Telegram und TikTok. Die Mechanismen ähneln jenen der Musikindustrie: Statt redaktioneller Auswahl entscheidet algorithmische Verstärkung, statt Expertise zählt Emotionalität.
Der Unterschied liegt im Ergebnis. Während im Kulturbereich Dezentralisierung tendenziell Vielfalt ermöglicht, führt sie in der Politik oft zur Polarisierung. Bewegungen wie MAGA nutzen dieselben Werkzeuge, die einst für Demokratisierung gefeiert wurden – nur mit entgegengesetztem Ziel. Der Diskurs wird nicht breiter, sondern lauter.
Hier wirkt das, was man als „pervertierte Re-Demokratisierung“ bezeichnen kann: Jeder kann senden, doch Plattformlogiken belohnen Erregung, nicht Argumentation. Der algorithmische Mainstream produziert keine Kompromisse, sondern Extreme.
Die AfD in Deutschland profitiert davon, indem sie den Raum besetzt, den traditionelle Parteien räumen mussten. Ihr Erfolg speist sich weniger aus ideologischer Überzeugung als aus einem emotionalen Vakuum. Viele Menschen, die sich vom gesellschaftlichen Zentrum entfremdet fühlen, suchen Zugehörigkeit – das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Früher stifteten Parteien, Kirchen oder Subkulturen dieses Gemeinschaftsgefühl. Heute bieten es digitale Bewegungen, die einfache Erzählungen liefern und Komplexität in Zugehörigkeit umwandeln.
Eine besonders gute Quelle ist das Pew Research Center mit seiner Rubrik „Trust in Media” und der Studie „Public Trust in Institutions and Media“ – Empirische Daten zu sinkendem Vertrauen in Politik und Medien.
Zudem gibt es das Edelman Trust Barometer (2025): Global Report – Zahlen zur Wahrnehmung von Eliten und Institutionen weltweit.
Hollywood, Journalismus und die Logik der Auflösung
Das gleiche Muster zeigt sich im Film. Hollywoods Blockbuster-Ära beruhte auf der Vorhersagbarkeit von Publikumsgeschmack. Mit Streamingdiensten wie Netflix oder A24 verschob sich die Macht zu datengetriebenen Produktionssystemen. Die Studios reagierten zu spät, und plötzlich bestimmten Algorithmen, welche Geschichten erzählt wurden. Auch hier verschwindet der Gatekeeper nicht, er wird unsichtbar.
Im Journalismus wiederholt sich der Zyklus: Redaktionelle Auswahl wich der Logik von Klicks und Shares. Newsletter-Plattformen wie Substack oder unabhängige YouTuber stehen für die neue Form von Öffentlichkeit – fragmentiert, aber direkter. Eine zentrale, gemeinsamen Informationsbasis wird dabei unterspült. Wir müssen jetzt realisieren, dass das Internet genau dazu designt wurde, nur dass das Experiment nicht ganz nach Plan lief. Was übrig bleibt, ist ein Flickenteppich aus Mikro-Öffentlichkeiten, die kaum noch miteinander sprechen. Das ist nicht grundsätzlich schlecht, es folgt mehr Unabhängigkeit aber auch weniger Gemeinsinn.
Der Verlust der geteilten Frequenz
Die Generationen, die mit Rock, Fußball-Weltmeisterschaften und MTV aufwuchsen, teilten ein kulturelles Grundrauschen. Es gab eine begrenzte Zahl von Symbolen, über die sich kollektive Emotion herstellen ließ. Heute ist dieses Grundrauschen verschwunden. Generation Z erlebt Aufbruch, Wut und Hoffnung genauso – aber in tausend parallelen Räumen.
Das hat Vorteile: mehr Ausdruck, mehr Vielfalt. Doch es fehlt das verbindende Moment. Wo früher Musik, Kino oder große politische Bewegungen gemeinsame Identität stifteten, herrscht heute das Gefühl einer chronischen Zersplitterung.
Diese Auflösung des Gemeinsamen ist der Preis der Demokratisierung. Die alten Gatekeeper hatten ihre Schattenseiten – Vetternwirtschaft, Intransparenz, Ideologisierung – aber sie boten auch einen Rahmen. Ihr Verschwinden hat die kulturelle Produktion befreit, zugleich aber entankert – also auch in der Popkultur eine gesellschaftliche Umwälzung nach dem selben Muster – das kann kein Zufall sein.
Die Suche nach neuen Formen der Bindung
Die offene Frage lautet: Was ersetzt diese verlorenen Bindungen? In der Musik gelingt es einigen Künstlern, Energie neu zu organisieren. Turnstile steht exemplarisch dafür, wie sich aus einer alten Szene ein neues Ethos bilden kann – roh, emotional, sozialmedial kompetent. Eine vergleichbare „positive Kraft“ fehlt in anderen Bereichen bislang.
In der Politik entsteht das meiste Momentum aus Wut, nicht aus Vision. Hoffnung, Zugehörigkeit oder Zukunftsoptimismus wirken in den schnellen Zyklen der sozialen Medien zu langsam. Doch langfristig ließe sich die Mechanik der Plattformen auch für das Gegenteil instrumentalisieren: durch Wiederholbarkeit, Authentizität und gemeinsames Handeln statt durch Empörung.
Solche Bewegungen müssten weniger auf moralische Überlegenheit setzen als auf Nachvollziehbarkeit. Hoffnung kann viral gehen, wenn sie einfach, konkret und emotional anschlussfähig ist – etwa durch sichtbare Erfolge lokaler Initiativen oder durch Symbolik, die Beteiligung ermöglicht.
Ein neuer Zyklus gesellschaftlicher Umwälzungen beginnt
Überträgt man das Muster, das in der Musik sichtbar wurde, auf die Gesellschaft insgesamt, ergibt sich ein klarer Zyklus: Rebellion → Kommerzialisierung → Disruption → Kontrollverlust → Neuordnung. Jede dieser Phasen lässt sich in unterschiedlichen Bereichen nachweisen – vom Rock über die Politik bis zu den sozialen Medien selbst.
Wir befinden uns derzeit zwischen den letzten beiden Stadien: im Kontrollverlust der alten Ordnung und in den ersten Versuchen, neue Formen der Legitimität zu schaffen. Die entscheidende Frage lautet, ob diese neue Ordnung wieder von Empörung lebt – oder ob sie Wege findet, konstruktive Energie algorithmisch konkurrenzfähig zu machen.
Denn das eigentliche Versprechen des Internets war nie, dass jeder zu Wort kommt, sondern dass Wahrheit, Talent und Argument eine faire Chance gegen Macht haben. Dieses Versprechen ist nicht gescheitert – es ist noch immer im Beta-Test.
Und vielleicht braucht jede Epoche ihren eigenen Turnstile-Moment: eine Kraft, die den alten Klang aufnimmt, ihn neu zusammensetzt und zeigt, dass Aufbruch, Wut und Hoffnung auch in einer zersplitterten Welt noch zusammenfinden können.