Schlagwort-Archive: wirtschaft

Warum Thomas Pikettys Formel r > g unsere Epoche erklärt

Es gibt Formeln, die disruptiv sind. Es gibt welche, die etwas über die Zukunft der Demokratie varraten. Sie sind Weltdeutungen, kleine Fenster in das, was unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält – oder trennt. Die Formel r > g, die Thomas Piketty 2014 in seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert berühmt machte, gehört zu diesen Gleichungen. Der Code der Ungleichheit. Sie ist so schlicht wie beunruhigend: Die Rendite auf Kapital – also die jährlichen Erträge aus Besitz, Aktien, Immobilien, Unternehmen – ist langfristig höher als das Wachstum der Wirtschaft. In Symbolen: r ist größer als g.

Was wie eine akademische Randnotiz klingt, beschreibt in Wahrheit den Konstruktionsfehler einer ganzen Epoche. Denn wenn Kapital schneller wächst als Einkommen, wenn Erträge aus Besitz die Löhne überholen, dann wird Reichtum automatisch ungleicher verteilt – ganz gleich, wie fleißig oder talentiert eine Gesellschaft ist. Es ist, als liefe ein unsichtbarer Zinseszins gegen die Gleichheit.

Die unsichtbare Maschine

Pikettys Formel ist nicht ideologisch, sie ist empirisch. Über 200 Jahre Daten aus mehr als 20 Ländern hat er ausgewertet – von Grundsteuerregistern aus dem 18. Jahrhundert bis zu modernen Einkommensstatistiken. Und das Muster ist immer gleich: Die Vermögen der Besitzenden wachsen schneller als das Gesamteinkommen einer Gesellschaft.

Das Ergebnis ist eine stille Drift, eine langsame Schieflage, die sich Jahr für Jahr vertieft. In Deutschland besitzen heute die reichsten 10 Prozent über 60 Prozent des Nettovermögens, die ärmere Hälfte weniger als zwei Prozent. Drei Viertel der Milliardäre haben ihr Vermögen geerbt. Der Aufstieg durch Arbeit – das Versprechen der Nachkriegszeit – wird rechnerisch immer unwahrscheinlicher.

Piketty nennt das den „automatischen Mechanismus der Ungleichheit“. Er entsteht nicht durch Verschwörungen oder böse Absichten, sondern durch die einfache Mathematik kumulativer Erträge. Wer Kapital hat, bekommt Zinsen, Dividenden, Wertsteigerungen – und kann sie reinvestieren. Wer kein Kapital hat, lebt von Arbeit, deren Erträge begrenzt bleiben. Über Jahrzehnte hinweg öffnet sich so die Schere – langsam, aber unaufhaltsam.

Der Rückblick als Täuschung

Die Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, glaubte lange, dieser Mechanismus sei überwunden. Das Wirtschaftswunder, die Sozialstaaten, die breite Mittelschicht – sie schienen Beweise dafür, dass Kapitalismus und Gleichheit miteinander vereinbar seien. Doch Piketty zeigt: Diese Phase war eine historische Ausnahme, keine Regel.

Nach 1945 vernichteten Kriege und Inflation riesige Vermögen. Hohe Steuern, staatliche Investitionen, ein fordistischer Arbeitsmarkt und starkes Bevölkerungswachstum ließen die Einkommen schneller steigen als die Renditen auf Kapital. Für einige Jahrzehnte galt tatsächlich g > r.

Doch seit den 1980er Jahren – mit der Deregulierung der Finanzmärkte, den Steuerreformen unter Thatcher und Reagan, der Globalisierung und dem digitalen Kapital – hat sich das Verhältnis wieder umgekehrt. Heute wächst das Kapital erneut schneller als die Wirtschaft. Die Formel r > g ist zurück. Und mit ihr eine Dynamik, die selbst stabile Demokratien erodieren lässt.

Wenn Herkunft wichtiger wird als Leistung

In Deutschland dauert es laut OECD fünf Generationen, bis jemand aus der ärmsten Schicht das mittlere Einkommen erreicht. Das sind etwa 150 Jahre – länger, als die meisten Dynastien halten. Diese Zahl ist die statistische Übersetzung des Satzes: „Herkunft schlägt Leistung.“

Ungleichheit verändert nicht nur Kontostände, sie verändert Kultur. Wer in Wohlstand hineingeboren wird, erbt nicht nur Vermögen, sondern auch Netzwerke, Sicherheit, Gelassenheit. Wer nichts erbt, erbt Unsicherheit – und das Gefühl, immer einen Schritt hinterher zu sein.

Piketty schreibt: „Wenn Kapital sich schneller vermehrt als die Wirtschaft wächst, wird das Gestern mächtiger als das Morgen.“ Der Reichtum der Toten regiert über die Chancen der Lebenden.

Und das bleibt nicht folgenlos. Kinder aus einkommensstarken Familien besuchen bessere Schulen, leben gesünder, haben mehr Zeit, um zu lernen oder zu scheitern. Männer aus der obersten Einkommensgruppe leben in Deutschland im Schnitt neun Jahre länger als jene aus der untersten. Es ist eine biologische Konsequenz ökonomischer Ungleichheit.

Demokratie unter Druck

Ökonomische Konzentration bedeutet immer auch politische Konzentration. Reichtum kauft Einfluss – legal über Spenden, informell über Netzwerke, subtil über die Sprache der „Sachzwänge“. Wenn wenige über viel verfügen, verschiebt sich die Balance der Demokratie.

In den unteren Schichten wächst der Zynismus: die Überzeugung, dass Wahlen ohnehin nichts ändern. In den oberen Schichten wächst der Einfluss: die Fähigkeit, Politik und öffentliche Meinung in die gewünschte Richtung zu lenken. Zwischen beiden entsteht ein gefährlicher Resonanzraum – fruchtbarer Boden für Populismus und Misstrauen.

Der Politikwissenschaftler Colin Crouch nannte das „Postdemokratie“: eine Gesellschaft, in der die Institutionen der Demokratie weiter existieren, aber die wesentlichen Entscheidungen längst in wirtschaftlichen Machtzentren fallen. Piketty liefert die ökonomische Gleichung dazu.

Wenn r > g, dann wächst nicht nur Vermögen, sondern auch Macht – exponentiell, generationenübergreifend, bis sie sich der Kontrolle des Demos entzieht.

Warum der Markt allein es nicht richtet

Die klassische Ökonomie sah Ungleichheit oft als notwendiges Übel. Unterschiedliche Einkommen sollten Anreize für Leistung schaffen, Reiche würden investieren, und dadurch wachse die Wirtschaft für alle. Das war die Logik der „Trickle-down“-Theorie – Wohlstand per Tropfprinzip.

Doch empirisch zeigt sich: Ab einem gewissen Punkt hört der Wohlstand auf zu tropfen. Wer sehr viel besitzt, konsumiert kaum mehr, investiert nicht produktiver, sondern parkt Geld in Vermögenswerten – Immobilien, Aktien, Kunst –, die ihrerseits weiter im Wert steigen. Kapital gebiert Kapital, ohne Umweg über Arbeit oder Innovation.

Piketty nennt das die „Rentiergesellschaft des 21. Jahrhunderts“. Sie erinnert frappierend an das 19. Jahrhundert, in dem Besitz, nicht Produktivität, über Status entschied. Nur dass die Schlösser heute Fonds heißen, und die feudalen Ländereien Hedgefonds oder Immobilienportfolios sind.

Die Märkte, so die Erkenntnis, sind nicht von Natur aus gerecht. Sie belohnen Kapital, nicht Verdienst. Und sie korrigieren sich nicht selbst.

Die politische Antwort

Pikettys Vorschlag ist ebenso radikal wie einfach: Wenn die Ungleichheit aus der Dynamik r > g entsteht, dann muss man r senken und g erhöhen – durch politische Gestaltung.

Er plädiert für progressive Steuern auf Kapital, nicht nur auf Einkommen. Kleine Vermögen sollen kaum belastet, große stärker besteuert werden – bis zu 5 oder 10 Prozent pro Jahr für Milliardäre. Diese Steuer wäre weniger ein fiskalisches Instrument als ein demokratisches: eine Rückholung politischer Kontrolle über den Reichtum.

Zugleich fordert Piketty eine internationale Koordination von Steuersystemen. Solange Kapital grenzenlos ist, aber Steuergesetze national bleiben, gewinnen die Vermögenden das Spiel. Der jüngste Schritt – die globale Mindeststeuer von 15 Prozent für Konzerne – ist ein Anfang, aber kein Ende.

Seine zweite Säule: massive Investitionen in Bildung und Gesundheit, die das Leistungsprinzip wieder real machen. Denn Chancengleichheit, so banal es klingt, kostet Geld – und Vertrauen.

Und schließlich: Demokratische Transparenz. Ein globales Register großer Vermögen soll ermöglichen, Eigentum sichtbar zu machen – nicht um zu bestrafen, sondern um wieder Gleichheit vor dem Gesetz herzustellen.

Die Grenzen der Formel

Natürlich gibt es Kritik. Der Harvard-Ökonom Gregory Mankiw etwa fragt spöttisch: „Ja, r > g. Na und?“ Menschen geben Geld aus, erben teilen, Staaten besteuern – Reichtum zersplittert von selbst. Andere verweisen darauf, dass die absolute Armut weltweit so niedrig ist wie nie. Vielleicht ist Ungleichheit also das Nebenprodukt eines globalen Fortschritts.

Doch diese Einwände verkennen, worum es Piketty geht. Seine Formel beschreibt keine moralische Anklage, sondern eine strukturelle Gefahr. Auch eine Welt ohne Hunger kann an innerer Ungleichheit zerbrechen, wenn sie das Gefühl für Gerechtigkeit verliert.

Piketty selbst hat seine Theorie weiterentwickelt. In Kapital und Ideologie (2019) schreibt er: „Ungleichheit ist weder ökonomisch noch technologisch – sie ist politisch.“ Jede Epoche rechtfertigt ihre Hierarchien mit einer Geschichte, die sie für natürlich hält. Im Mittelalter war es der göttliche Wille, im Kolonialismus die Zivilisationsmission, im Neoliberalismus die Meritokratie – der Glaube, dass Einkommen das Ergebnis von Leistung sei.

Doch wenn Kapitalerträge dauerhaft höher sind als Arbeitseinkommen, ist Leistung längst nicht mehr der Maßstab. Dann wird Meritokratie zur Ideologie – und die Demokratie zu ihrem Opfer.

Europa als Labor

Besonders für Europa ist Pikettys Diagnose brisant. Hier sind die Vermögen älter, die Erbschaften größer, die Gesellschaften demografisch langsamer. Die Bedingungen für r > g sind ideal. Gleichzeitig gilt Europa als Wiege des Sozialstaats – jenes politischen Projekts, das Gleichheit nicht versprach, aber wenigstens Fairness.

Die Frage lautet also: Kann Europa der Ort sein, an dem das Gleichgewicht wiederhergestellt wird? Eine europäische Vermögenssteuer, eine koordinierte Erbschaftsbesteuerung, ein gemeinsamer Bildungsfonds – das wären Schritte in Richtung dessen, was Piketty „föderalen Sozialismus“ nennt: kein Dogma, sondern eine Demokratie, die ihre ökonomische Basis kennt.

Vielleicht liegt hier die wahre Provokation seiner Formel. r > g ist kein Schicksal, sondern ein Spiegel. Sie zwingt uns, über Politik nicht als Verwaltung, sondern als Gestaltung nachzudenken. Über Steuern nicht als Last, sondern als Ausdruck kollektiver Verantwortung.

Zwischen Zinseszins und Zukunft

Man könnte sagen, Piketty habe den Code unserer Zeit entschlüsselt. Aber die Formel erklärt nur die Mechanik, nicht das Ziel. Die eigentliche Frage bleibt offen: Was wollen wir als Gesellschaft wachsen lassen – Kapital oder Chancen?

In einer Welt, in der Algorithmen investieren, Erbschaften Milliardäre schaffen und Start-ups nach fünf Jahren Unicorn-Status erreichen, ist Wachstum nicht das Problem. Das Problem ist, wer daran teilhat.

Der Wohlstand der Zukunft wird nicht an Maschinen, Gebäuden oder Konten gemessen werden, sondern an Vertrauen. Vertrauen, dass die Regeln für alle gelten. Vertrauen, dass Herkunft nicht Schicksal ist. Vertrauen, dass Demokratie mehr kann, als Märkte zu verwalten.

Solange r > g, ist dieses Vertrauen bedroht. Doch gerade darin liegt die Hoffnung: Denn wenn Ungleichheit das Ergebnis von Regeln ist, dann können Regeln verändert werden.

Eine neue Aufklärung

Thomas Piketty hat die Wirtschaftswissenschaften gezwungen, sich wieder mit Geschichte zu beschäftigen – mit den langen Linien, den politischen Entscheidungen, den Menschen hinter den Zahlen. Er hat gezeigt, dass Ungleichheit kein Naturgesetz ist, sondern ein Produkt menschlicher Gestaltung.

In einer Zeit, in der politische Extreme zunehmen und die Mittelschicht schwindet, ist das keine akademische Einsicht, sondern eine demokratische.

Vielleicht ist das der eigentliche Sinn seiner Formel: nicht die Welt zu erklären, sondern uns daran zu erinnern, dass wir sie verändern können.