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German Free – ein Qualitätsmerkmal? Was wir Deutschen lernen müssen

„In Asien und den USA kursiert ein neues Qualitätsmerkmal: „German Free“. Gemeint ist nicht die Sprache, sondern ein System, das ohne 300 Formularfelder, ohne 12 Zwischenfreigaben und ohne perfektionistische Obsession auskommt.“ Der Satz stammt aus einem Kundengespräch, das nicht auf Ironie, sondern auf Frustration beruhte. Und er beschreibt einen Trend, der zunehmend auch europäische Unternehmen betrifft – insbesondere im Kontext der digitalen Transformation.

Problem

Deutsche Ingenieurskunst ist nicht das Problem. Aber wenn 90 % Komplexität zu 3 % Effizienz führen, und niemand mehr versteht, was eigentlich gelöst wird, dann stehen wir nicht vor einem Qualitätsproblem, sondern vor einem Strukturproblem. Dieses Strukturproblem betrifft nicht nur technische Systeme, sondern auch die Art, wie wir Arbeit und Zusammenarbeit im Rahmen der digitalen Transformation verstehen. Das Manager Magazin schrieb bereits 2023 über diesen Negativfaktor.

New Work hat wichtige Impulse gesetzt: Mehr Selbstbestimmung, mehr Respekt, weniger Hierarchie. Doch in der Praxis kippt dieses Modell oft in eine neue Form der Beliebigkeit. Das Ideal einer gleichwürdigen Arbeitskultur wird in vielen Fällen zu einem egalitären Wettbewerb um Zustimmung. Oberflächlicher Respekt ersetzt tiefere Verantwortung. Entscheidungen werden vermieden, statt getroffen. Das erinnert an die Kritik von Robert C. Martin: Ohne Struktur kippt jede Organisation in einen Zustand, in dem Beliebtheit mehr zählt als Qualität – ein Risiko, das auch viele Initiativen zur digitalen Transformation betrifft: „After all, Agile is all about egalitarianism. It is a rejection of command and control.“ (In The Large, 2. April 2018)

Kontext & Analyse

Historisch war es sinnvoll, Prozesse zu standardisieren, Qualität in Regeln zu fassen und Fehler durch Planung zu vermeiden. Viele deutsche Unternehmen wurden dadurch weltweit führend. Doch mit der digitalen Transformation verändert sich die Dynamik: Geschwindigkeit, Anpassungsfähigkeit und Nutzungsorientierung werden wichtiger als Regelkonformität.

In technologischen Systemen zeigt sich das besonders deutlich. Komplexität entsteht oft nicht aus fachlicher Notwendigkeit, sondern aus historisch gewachsenen Strukturen, internen Kompromissen und Sicherheitsbedenken. Die Folge: Statt technischer Exzellenz dominieren Absicherungslogik und Schnittstelleninflation. Das Ergebnis wirkt solide, ist aber schwerfällig – ein klarer Hemmschuh für jede digitale Transformation.

Ein Beispiel: Ein Projekt zur Einführung einer neuen Software in einem Mittelstandsunternehmen scheiterte daran, dass jedes Formularfeld durch drei Abteilungen abgestimmt werden musste. Der funktionale Kern war in zwei Wochen programmiert. Die Abstimmungen dauerten neun Monate. Das ist kein Einzelfall, sondern ein Symptom einer bremsenden Strukturlogik im Prozess der digitalen Transformation.

Parallel dazu wird in vielen Organisationen der autoritäre Top-Down-Stil abgelöst durch New-Work-orientierte Ansätze. Doch statt Innovation entsteht oft Orientierungslosigkeit. Denn wo keine strukturellen Vorgaben gemacht werden, entstehen informelle Machtstrukturen. Der Wunsch nach Konsens ersetzt die Fähigkeit zur Priorisierung. Entscheidungen brauchen Zustimmung aller oder passieren gar nicht. Auch das behindert die digitale Transformation.

Optionen / Einsichten

Wir arbeiten bei Kehrwasser und empfehlen das auch unseren Klienten, wenn sie in ihren Teams und Belegschaften digitale Transformation erfolgreich gestalten wollen: einen empirischen Ansatz, der Struktur und Respekt vereint. Es braucht keine importierten New-Work-Konzepte aus Kalifornien. Die europäische Aufklärung kennt bereits einen Begriff, der mehr Tiefe bietet als der verbreitete Respektbegriff: Würde. Würde impliziert Anerkennung – nicht als Gefühl, sondern als strukturellen Anspruch.

Statt zwischen zwei unbefriedigenden Polen zu schwanken – der alten, oft willkürlichen Hierarchie und der neuen, strukturlosen Konsenskultur – braucht es eine dritte Variante: eine, die strukturelle Klarheit schafft, indem sie eindeutig macht, wer was auf welcher Basis entscheidet; die auf empirischer Steuerung beruht, also auf der Frage, was wirkt und was nicht; die technische Modularität als Prinzip begreift, nach dem weniger oft mehr ist; die Verantwortung gegenüber Absicherung priorisiert; und die Anerkennung nicht als oberflächliches Etikett, sondern als verbindliches Prinzip behandelt.

Systeme, die auf diesen Prinzipien beruhen, sind anschlussfähig, wandlungsfähig und nutzerzentriert. Und sie sind frei von der Überfrachtung, die als „German“ kritisiert wird, ohne ihre Stärken zu verlieren. Damit werden sie zum belastbaren Fundament jeder erfolgreichen digitalen Transformation.

Ausblick

„German Free“ wird kein offizielles Label werden. Aber als inoffizielle Kritik trifft es einen Nerv. Es zeigt, dass Qualität heute anders verstanden wird: weniger als Perfektion, mehr als Nutzbarkeit. Organisationen, die das erkennen, können international anschlussfähig bleiben. Die Voraussetzung ist nicht ein KI-System, das alles optimiert. Sondern die Fähigkeit, Würde, Struktur und Vereinfachung als Fundament moderner Zusammenarbeit zu denken – und diese Prinzipien gezielt in die digitale Transformation zu überführen.

Remote Arbeit: Motivierte Teams zuhause

Remote Arbeit ist trotz der Erfahrungen der Pandemie weiterhin kontrovers. Es ist möglich, professionelle und hochmotivierte Teams aufzubauen, die vollständig remote arbeiten. Was sind die aktuellen wissenschaftlichen Beiträge dazu?

Sind Teams in Remote Arbeit wirtschaftlich sinnvoll?

Es gibt gute Gründe ins Büro zu gehen. Jedenfalls für einige Teams. Es gibt aber auch gute Gründe für einige, reine Remote Teams zu sein. Die Frage ist nicht, ob die Zukunft der Arbeit entweder in der Remote Arbeit liegt oder vorort. Es geht um die Frage, ob reine Remote Teams von der Performance her mit Offlineteams mithalten können. Ist Homeoffice ein Benefit wie das Jobrad oder eine BahnCard es ist? Ein Herz für Stubenhocker sozusagen? Oder kann man Teams aufbauen, die am Ende produktiver sind, als sie es wären, wenn sie in Präsenz arbeiten müssten. Und sind sie vielleicht dazu weniger oft krank, motivierter, effizienter und allgemein zufriedener? Wie gesagt: Nicht alle Teams und Menschen, aber einige.

Man kann in Remote Arbeit eine Gemeinschaft schaffen

Eine besonders kontroverse Frage ist wohl, in wie weit sich aus der Ferne, in einem Team, das sich physisch nie oder fast nie sieht, eine Verbindung herstellen lässt. Das bedeutet nicht, dass Freundschaften, Kollegialität, Loyalität sich nicht in ausreichendem Maß über die Ferne aufbauen ließe.

Es gibt einige Anzeichen, warum das stimmen könnte und die die Hoffnung auf großartige Remote Teams aufrechterhält und sogar nährt.

Ich sehe Omas und Opas die ihre Enkelkinder die meiste Zeit über die Ferne begleiten. Ich sehe dort starke Bindungen trotz Distanz und Virtualität. Freundschaften, die über Jahre über eine weite Strecke halten, kenne ich aus eigener Erfahrung. Mehrfach.

Viele introvertierte Menschen scheuen sich geradezu vor physischen Teamereignissem im Reallife. Ist es ein Verbrechen, sich hinter einem Computerbildschirm sicherer und wohler zu fühlen? Sicherlich jene sogar besser, wenn man sie nicht umerzieht.

Gamer machen es seit Jahrzehnten vor. Noch als ich vor Jahrzehnten zur Schule ging gab es die ersten Kameraden, die sich zu sogenannten Klans und Gilden zusammengeschlossen haben – teilweise Menschen die sich nie physisch begegnet sind, sich aber dennoch regelmäßig im virtuellen Raum getroffen haben um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Interessant ist, dass heute im Trend ist, Gilden, Chapter und Task Forces in der allgemeinen Arbeitswelt einzuführen.

Ich habe Exsoldaten in Wohnheimen kennenlernen dürfen, die nicht im Verdacht standen, den echten Kontakt mit Menschen zu scheuen. Dennoch verzog er sich mit kindlicher Freude teilweise samstagabends mit einem Sixpack und einem Headset vor den Rechner um der Spielfreude ausgiebig zu nachzugeben.

Das sind alles noch keine wissenschaftlichen Belege, aber doch gute Anhaltspunkte, dass sich eine starke Bindung aufbauen lässt. Es kommt dabei sehr auf die Teamstruktur an. Habe ich viele Mitarbeiter, die ständig auf die Rampe müssen? Aber sein wir doch mal ehrlich: In welchen Bereichen ist das heute noch so? Vielleicht in Salesteams. Die meisten sind doch eher kopflastig – gerade in Innovationsteams.

Remote Team Building

Remote Team Building funktioniert hervorragend. Es hat schon etwas mit einer gewissen Gamification zu tun und darf nicht konstruiert sein (letzteres gilt genauso für Teams die zu 0% remote arbeiten).

Auch ein Remote Team muss erst ein Team werden. Ein Team verfolgt ein gemeinsames Ziel. Die Mitglieder müssen die gemeinsame Vision verstehen, ihre Wichtigkeit, ihren Zweck. Sie müssen verstehen, dass sie keine Einzelkämpfer sind und jedes Teammitglied eine wichtige Aufgabe erfüllt. Ein Team muss in gewisserweise eine Bruderschaft werden. Man muss zusammen durch etwas gehen.

Dabei reden wir gerade nicht über gemeinsame digitale Bowlingabende, Pokerrunden oder tatsächlich irgendwelche gemeinsam gespielten hardcore Games. Das kann man natürlich zusätzlich machen, sofern es den Geschmack des Teams trifft. Soetwas ist nicht jedemanns Sache und kommt teilweise sogar eher als lästige Pflicht daher.

Viel wichtiger: Ist Remote Team Building zu konstruiert, wirken solche Teamevents künstlich. Diese Wirkung wiederum verstärkt den Eindruck, dass das Team es nötig hat, ein künstliches Szenario aufzubauen. Das sät Zweifel daran, ob die eigentliche gemeinsame Aufgabe wirklich wichtig genug ist, um sinnvoll zu sein. Eine Herausforderung bei der man aufeinander angewiesen ist, um sie zu meistern. Gemeinsam an Dokumenten arbeiten, gemeinsame Brainstormings oder auch eine Runde Planning Poker ist organisch.

Und genau dabei geht es beim Teambuilding nicht nur im Remote Team: Die Abhängigkeit der Teammitglieder untereinander und das gegenseitige Vertrauen aufzubauen.

Hybrides Arbeiten

Hybride Meetings sind nur okay, wenn die technische Ausrüstung buchstäblich hervorragend ist. Große Bildschirme und exzellente Soundqualität sind notwendig, um die Mitarbeiter gleichwertig zuschalten zu können. Trotz bestem Equipment kommt es dazu, dass die Remotekollegen nicht dieselbe Präsenz haben, wie die Kollegen Vorort. Sie können leicht abgeschnitten und ignoriert werden. Teams mit Remotekollegen sollten die Meetings entweder gemeinsam vollständig online oder konsequent offline durchführen, wann immer es möglich ist. Es ist immer mal notwendig, dass jemand nicht persönlich dabei sein kann. Dann sollte man sich überlegen, ob der Kollege nicht evtl. komplett aussetzt. Ausnahme kann man ihn natürlich virtuell dazu holen. Eventuell auch nur als Telefonjoker.

Das heißt alles nicht, dass es nicht förderlich wäre, sich ab und an im Office zu treffen. Eine gemeinsame Retro, einen Hackathon, ein Brainstorming an der Pinnwand oder so etwas kann helfen, wenn die eigenen vier Wände zu eng werden. Auch ein gemeinsames Abendessen ist manchmal Gold wert – aber das gilt ohnehin für alle Teams. Doch vorsicht: Ist das Team sehr verteilt, kann es zu ungesunden Grüppchenbildungen und in der Folge zu Lagerkämpfen im Team kommen. Teammitglieder fühlen sich ausgeschlossen. Das ist das Schlimmste, was dem Teamgefüge aus meiner Sicht passieren kann.

Wissenschaftliche Sachlage zur Remote Arbeit

Laut Fachhochschulprofessor Prof. Dr. Carsten C. Schermuly gibt es kaum Daten. Viele Arbeiten und Studien sind noch aus der Vorcoronazeit. Die Studien zeigen nur Ergebnisse, die auf vergangenen, damit zumindest improvisierten, Remotepraktiken aufbauen. Sprich Organisationen machen genau die oben beschriebenen Fehler bei der Remote Arbeit und die Studien messen darauf die Motivation und Produktivität der Teams. Natürlich sind die Ergebnisse dann mies.

Ein Setting für eine Studie wäre es, drei statt nur zwei Gruppen zu vergleichen. Nicht nur reine Offlineteams mit Situationen, in denen einige Teammitglieder eben von Zuhause aus arbeiten. Es müssen wirklich Remote Teams im Sinne der obigen Beschreibung ebenfalls untersucht werden. Also Kontrollgruppe: Offlineteams und dann die Varianten „Offlineteam mit Homeofficeregelung“ und „Vollständiges Remote Team“. Erst dadurch kann nach Ceteris Paribus ein Kausalzusammenhang zwischen der Hypothese, dass Remote Teams mindestens so wirtschaftlich sind wie klassische Teams.

Leider habe ich und Schermutly laut seinem Post bei Linkedin noch keine derartige Studienlage gefunden.

Klar ist für Schermutly, dass Homeoffice alleine nicht bereits NewWork bedeutet (das soll der vorliegende Artikel ebenfalls in keiner Weise suggerieren). Das erklärt er unter anderem in einem Gespräch mit Stefan Scheller.

Schermutlys Beschreibung, dass Remote Arbeit kein Fortschritt im Sinne von NewWork sei, da es sie schon im Mittelalter gab, halte ich für schwierig. Man bekommt den Eindruck, NewWork brauche das Office. Dagegen spricht schon die reine Definition: Wenn NewWork zu mehr Selbstbestimmung der Mitarbeiter führen soll, ist kann es weder einen Zwang für Homeoffice noch für das Office geben. Der Mitarbeiter muss selbstbestimmt entscheiden können, ob er eher in einem Remote Team arbeiten möchte, oder es vorzieht, mit den Kollegen im Office.

Ich werde die Entwicklung der empirischen Fakten aus der Wissenschaft im Auge behalten und berichten, sobald sich Studien ergeben, die analysieren, wie echte Remote Teams im Vergleich abschneiden.

Konklusion zum Thema Remote Arbeit

Ein reines Remote Team konnte ich selbst bereits erfolgreich aufbauen. Will man in harten Metriken ausdrücken, was Erfolg bedeutet, so sind es wohl Werte wie Zusammenhalt, Befinden, Motivation, Krankheitszahlen, Produktivität, Zuverlässigkeit. In dem Remote Team um unser agiles Planungtool sind all diese Werte top. Die sogenannte „Lead Time for Changes“ ist in diesem Team zum Beispiel sogar weit überdurchschnittlich.

Ich sehe keinen Grund, dies nicht reproduzieren zu können. Auch wenn sich nicht jedes Team durch Change Management in ein reines Remote Team überführen lässt. Das muss es aber auch nicht.