Die Debatte um die 4-Tage-Woche ist verfrüht

Die Diskussion um die 4-Tage-Woche prägt seit einiger Zeit die arbeits- und wirtschaftspolitischen Debatten. Sie weckt Erwartungen nach Entlastung, mehr Work-Life-Balance und einer neuen Qualität der Arbeit. Doch jenseits normativer Wünsche stellt sich eine nüchterne Frage: Ist die 4-Tage-Woche unter den aktuellen ökonomischen Rahmenbedingungen überhaupt tragfähig? Eine einfache Rechnung legt nahe, dass diese Debatte verfrüht geführt wird.

Problem: Produktivitätslücke

Weniger Arbeitstage bedeuten bei unveränderter Produktivität pro Stunde ein Minus von rund 20 Prozent an Arbeitszeit. Bei einer regulären Fünf-Tage-Woche entspricht ein Arbeitstag etwa einem Fünftel der Arbeitszeit. Wird dieser gestrichen, sinkt das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen spürbar. Um das Bruttoinlandsprodukt konstant zu halten, müsste die Produktivität pro Stunde folglich um rund 25 Prozent steigen. Diese Zahl markiert den Kern des Problems: Ohne diesen Zuwachs bleibt die 4-Tage-Woche ein ökonomisches Defizitprogramm.

Die entscheidende Frage lautet daher: Woher soll dieser Produktivitätszuwachs kommen? Und wie realistisch ist es, ihn in einem überschaubaren Zeitraum zu erreichen?

Kontext & Analyse

Ein Blick auf die aktuellen Studien zu Digitalisierung, Automatisierung und Gen-AI liefert eine vorsichtige Antwort. Je nach Sektor werden Produktivitätssteigerungen von 0,5 bis 3,4 Prozentpunkten pro Jahr prognostiziert. Diese Bandbreite zeigt zwei Dinge: Erstens gibt es Potenzial, um Produktivitätslücken zu schließen. Zweitens sind diese Steigerungen nicht selbstverständlich, sondern abhängig von konsequenter Umsetzung und breiter Skalierung.

Die Sektoren unterscheiden sich erheblich. In der Industrie lassen sich durch Automatisierung und datenbasierte Prozessoptimierungen vergleichsweise hohe Zuwächse erzielen. Im Dienstleistungssektor sind die Hebel kleinteiliger und schwerer zu standardisieren. Verwaltung und öffentlicher Sektor wiederum sind durch komplexe Strukturen und häufig auch durch regulatorische Vorgaben gebremst. Dort liegt zwar enormes Potenzial, doch die Geschwindigkeit der Umsetzung ist begrenzt.

Eine weitere Dimension ist die Verteilung der Effekte. Produktivitätssteigerungen treten nicht gleichmäßig auf, sondern konzentrieren sich auf bestimmte Branchen und Tätigkeiten. Gen-AI kann in Wissensarbeit erhebliche Effizienzgewinne ermöglichen, doch in personenbezogenen Dienstleistungen wie Pflege oder Erziehung bleiben die Effekte begrenzt. Damit ergibt sich ein gesamtwirtschaftliches Problem: Einzelne Sektoren können die fehlenden Produktivitätszuwächse anderer nicht vollständig kompensieren.

Optionen und Einsichten

Wenn die 4-Tage-Woche mittelfristig realisierbar sein soll, müssen mehrere Bedingungen erfüllt werden.

Erstens erfordert sie eine massive Beschleunigung von Digitalisierungsprogrammen. Prozesse müssen automatisiert, Schnittstellen standardisiert und Verwaltungsaufwände reduziert werden. Ohne diese Grundlagen bleibt Produktivitätssteigerung fragmentarisch. Zweitens braucht es klare Priorisierung. Gerade im Mittelstand werden digitale Investitionen oft als Kostenfaktor betrachtet, nicht als strategische Notwendigkeit. Ein Umdenken ist erforderlich: Produktivität ist nicht nur eine betriebliche Kennzahl, sondern die Bedingung für makroökonomische Tragfähigkeit. Drittens muss der Dienstleistungssektor stärker in den Fokus rücken. Hier entscheidet sich, ob Produktivität in Breite und Alltag wirkt oder ob sie nur in einzelnen Industrien sichtbar bleibt.

Das bedeutet: Die Debatte um die 4-Tage-Woche ist weniger eine Frage der Arbeitsorganisation als eine Frage der Digitalisierungsfähigkeit. Wer den Weg zur 4-Tage-Woche ernsthaft beschreiten will, muss die Grundlagen schaffen, die Produktivität im zweistelligen Bereich steigen lassen. Dazu gehört auch, Hürden abzubauen – von unflexiblen Arbeitszeitgesetzen bis zu langsamen Genehmigungsverfahren in der öffentlichen Verwaltung.

Zudem sollten Unternehmen und Politik realistische Zeitachsen kommunizieren. Ein Produktivitätszuwachs von 25 Prozent lässt sich nicht in wenigen Jahren erreichen, wenn die durchschnittlichen Zuwachsraten im niedrigen einstelligen Bereich liegen. Es braucht langfristige Strategien, die auf kumulierte Effekte setzen. Mit jährlichen Steigerungen von zwei bis drei Prozentpunkten ist das Ziel erreichbar – aber erst in einem Zeithorizont von einer bis eineinhalb Jahrzehnten.

Manifest der Realität

Die eigentliche Frage lautet daher nicht, ob die 4-Tage-Woche wünschenswert ist. Sie ist es, zweifellos. Der Wunsch nach Entlastung und besserer Vereinbarkeit von Arbeit und Leben ist legitim und gesellschaftlich nachvollziehbar. Doch die ökonomische Realität lässt sich nicht durch normative Zustimmung überwinden. Der entscheidende Punkt ist, wie wir den Sprung von der heutigen Realität hin zu den erforderlichen +25 Prozent schaffen.

Ein Manifest realistischer Arbeitszeitpolitik könnte lauten:

  • Wir wollen die 4-Tage-Woche, aber wir akzeptieren, dass sie Investitionen erfordert.
  • Wir erkennen an, dass Produktivität die Schlüsselgröße ist, nicht allein der Arbeitszeitumfang.
  • Wir setzen auf Digitalisierung, Automatisierung und KI – nicht als Zusatz, sondern als Bedingung.
  • Wir benennen klare Zeitachsen und vermeiden politische Kurzschlüsse.

Dieses Manifest würde die Debatte versachlichen und den Blick von der normativen Ebene auf die strukturellen Voraussetzungen lenken.

Ausblick

Bis dahin bleibt die 4-Tage-Woche ein Konzept, das mehr über unsere Sehnsucht nach Entlastung verrät als über die reale Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft. Die Diskussion sollte daher nicht darum kreisen, ob wir vier Tage arbeiten wollen, sondern wie wir die Produktivitätsbasis schaffen, die es ermöglicht. Erst wenn wir diese Basis gelegt haben, wird die 4-Tage-Woche mehr sein als ein Wunschbild. Sie kann dann als Ausdruck einer reifen Arbeitsgesellschaft gelten, die technologische Möglichkeiten nutzt und ökonomische Stabilität sichert.

Beraterradar: Frühwarnsystem gegen ausufernde Beratungsprojekte

Die Fälle häufen sich, und als Brancheninsider wäre es naiv anzunehmen, Beratungen und Dienstleister würden nicht bewusst Projekte in die Länge ziehen, verlangsamen oder aufblähen, um mehr billable hours zu generieren. Genau hier setzt das Beraterradar an. Es ist ein heuristisches System, das anhand weniger, klar messbarer Eckdaten sofort aufzeigt, ob ein Projekt stabil läuft oder ob sich Muster abzeichnen, die in der Vergangenheit immer wieder zu Problemen geführt haben. Für Geschäftsführer und CEOs bedeutet das: weniger Blindflug, mehr Orientierung.

Warum ein Beraterradar nötig ist

Externe Beratungen sind fester Bestandteil strategischer Projekte. Sie können große Mehrwerte schaffen, aber immer wieder zeigen Fälle wie bei Northvolt oder AccorMittal, dass Beratungsprojekte auch erhebliche Risiken bergen. Schlagzeilen über ausufernde Kosten, endlose Digitalisierungsinitiativen oder Abhängigkeitsverhältnisse sind keine Ausnahme. Das Beraterradar will nicht Schuldige benennen, sondern Transparenz schaffen – als Frühwarnsystem, bevor sich Projekte in Neverending Stories verwandeln.

Für Entscheider ist es entscheidend, solche Risiken frühzeitig zu erkennen. Denn in der Praxis zeigt sich: Kostenexplosionen oder fehlende Ergebnisse sind selten das Resultat von Zufällen. Häufig sind es strukturelle Muster, die sich über verschiedene Fälle hinweg wiederholen. Ein Beraterradar deckt diese Muster systematisch auf.

Die fünf zentralen Risikokategorien

Das Beraterradar bewertet Beratungsprojekte entlang von fünf Kernrisiken. Erstens: das Risiko der Neverending Story, wenn Laufzeiten und Budgets regelmäßig überzogen werden und erste Ergebnisse auf sich warten lassen. Zweitens: das Risiko des Rad-neu-Erfindens, wenn Berater statt bewährter Lösungen proprietäre Frameworks entwickeln. Drittens: die Gefahr des Vendor-Lock-ins, wenn Wissen und Schlüsselkomponenten ausschließlich bei externen Teams liegen. Viertens: die Berater-Capture, wenn Präsentationen und Managementressourcen dominieren, während die Wertschöpfung stagniert. Fünftens: die Vergabepraxis, wenn Ausschreibungen auffällig eng auf bestimmte Anbieter zugeschnitten sind.

Diese fünf Dimensionen sind bewusst einfach gehalten. Sie fassen die wiederkehrenden Muster zusammen, die sich über Jahre hinweg in Beraterprojekten gezeigt haben. Gleichzeitig lassen sie sich über konkrete Kennzahlen überprüfen.

Messbare Indikatoren statt Bauchgefühl

Ein Beraterradar funktioniert nicht über subjektive Einschätzungen, sondern über klare Messpunkte. Dazu zählen etwa der Anteil nachträglicher Vertragsänderungen, das Verhältnis von Managementstunden zu operativen Leistungen, die Geschwindigkeit bis zum ersten nutzbaren Ergebnis oder die Wiederverwendungsquote bestehender Komponenten. Aus diesen Daten entsteht eine einfache Ampel: Grün signalisiert Stabilität, Gelb zeigt Handlungsbedarf, Rot weist auf deutliche Muster hin, die in vergleichbaren Fällen zu Eskalationen geführt haben. Jede Auffälligkeit ist nachvollziehbar belegt – mit Change-Request-Logs, Jira-Daten oder Vertragsdokumenten.

Wie die Heuristik im Detail funktioniert

Die Stärke des Beraterradars liegt in seiner Heuristik, die aus verschiedenen Indikatoren ein Gesamtbild formt. Wenn zum Beispiel mehr als 35 Prozent des ursprünglichen Projektbudgets durch Change Requests überstiegen werden, signalisiert das ein erhebliches Risiko einer Neverending Story. Werden erste nutzbare Ergebnisse erst nach mehr als 120 Tagen sichtbar, ist das ein weiteres Warnsignal. Ebenso kann das Verhältnis von Managementstunden zu operativen Entwicklungsstunden zeigen, ob ein Projekt von Steuerung und Präsentationen dominiert wird oder ob tatsächlich Wertschöpfung stattfindet.

Auch auf technischer Ebene sind klare Muster erkennbar. Wird für ein Standardproblem eine komplett neue Eigenentwicklung gestartet, während am Markt ausgereifte Open-Source- oder Standardlösungen verfügbar wären, deutet das auf ein Rad-neu-Erfinden hin. Solche Entscheidungen erhöhen nicht nur die Komplexität, sondern binden Unternehmen langfristig an externe Ressourcen. Ergänzend bewertet das Beraterradar, ob Exit-Klauseln in Verträgen enthalten sind, ob Dokumentation vorliegt und ob Schlüsselwissen ausschließlich beim Dienstleister liegt. Diese Faktoren fließen in die Bewertung des Vendor-Lock-ins ein.

Die Heuristik bleibt dabei nachvollziehbar. Jeder Punkt in der Bewertung hat eine Quelle, jede Ampel ein klares Fundament. Das unterscheidet das Beraterradar von reinen Meinungen oder Bauchgefühlen, die in der Vergangenheit oft zu späten Reaktionen geführt haben.

Praktischer Nutzen für CEOs und Geschäftsführer

Für Entscheider entsteht damit ein Werkzeug, das nicht nur Risiken sichtbar macht, sondern auch konkrete Gegenmaßnahmen vorschlägt. Zeigt das Radar Rot beim Thema Rad-neu-Erfinden, ist ein COTS- und Open-Source-Review sofort einzuleiten. Leuchtet es Gelb im Bereich Vendor-Lock-in, gehören Exit-Klauseln und Übergabepläne auf die Agenda. So wird das Beraterradar zu einem Steuerungsinstrument, das Projekte stabilisiert, statt sie auszubremsen.

Ein weiterer Vorteil liegt in der Möglichkeit, Projekte über die Zeit zu beobachten. Anstatt erst im Krisenfall aktiv zu werden, können Führungskräfte Entwicklungen frühzeitig erkennen. Ein schleichendes Abdriften in endlose Beratungszyklen wird so sichtbar, lange bevor es zur Schlagzeile wird.

Beacon als nächste Ausbaustufe

Das Beraterradar ist ein Teil unserer Arbeit an „Beacon“, einem Tool, das Entscheider in die Lage versetzen soll, Transparenz über ihre Transformationsprojekte zu gewinnen. Schon heute ist mit dem kostenlosen Prozessbrowser eine erste Säule verfügbar. Dort lassen sich Aufwände für übliche Prozessautomatisierungen abschätzen – ein erster Schritt, um Klarheit über die wahrscheinlichen Kosten und Nutzen von Digitalisierungsmaßnahmen zu erhalten. Auf diesem Fundament soll Beacon aufbauen und langfristig ein umfassendes Steuerungssystem für Transformation und Beratung werden.

Für CEOs und Geschäftsführer bedeutet das: Sie können schon heute beginnen, mehr Transparenz in ihre Projekte zu bringen, ohne Kosten und Abhängigkeiten zu riskieren. Der Prozessbrowser liefert Orientierung, das Beraterradar ergänzt diese Perspektive und wird in Beacon zu einem ganzheitlichen Werkzeug zusammengeführt.

Von der Risikoerkennung zur Prävention

Wer die Risiken von Beratungsprojekten kennt, denkt schnell an Begriffe wie Kostenexplosion oder Projektverzögerung. Das Beraterradar ist genau dort positioniert: nicht als reaktives Werkzeug nach dem Skandal, sondern als proaktive Lösung. Es schafft die Grundlage, Beratungen gezielt dort einzusetzen, wo sie den größten Nutzen stiften. CEOs und Geschäftsführer gewinnen damit Sicherheit und die Freiheit, Transformationsprogramme unter eigener Kontrolle zu halten – ohne den Schatten endloser Abhängigkeiten.

Fazit

Die Risiken von Beratungsprojekten sind real und gut dokumentiert. Aber sie müssen nicht hingenommen werden. Mit einem Beraterradar erhalten Entscheider ein pragmatisches Frühwarnsystem, das aus klaren Heuristiken Orientierung gewinnt. In Verbindung mit Beacon entsteht so eine neue Qualität der Steuerung: weg von reaktiver Krisenbewältigung, hin zu proaktiver Risikoprävention. Für Unternehmen bedeutet das mehr Sicherheit, mehr Kontrolle und letztlich mehr Erfolg in ihren Transformationsprogrammen.


Quellen

  • Bundesrechnungshof: Bericht zur externen Beratungs- und Unterstützungsleistungen im Verteidigungsministerium (2018)
  • McKinsey Quarterly: Studien zu Transformationsprojekten und Erfolgsfaktoren (verschiedene Jahrgänge)
  • Eigene Analysen aus Projektdaten und typischen IT-Governance-Kennzahlen

AI-augmented Algorithms: Wie wir bei HHLA einen Blocker der Digitalisierung überwunden haben

Seit über 20 Jahren investieren Unternehmen weltweit in die Digitalisierung. ERP-Systeme, Prozessautomatisierung, Robotic Process Automation und Business Intelligence haben ganze Branchen transformiert. Dennoch bleiben zentrale Prozesse bis heute unvollständig digitalisiert. Die Gründe sind vielfältig, doch eines sticht heraus: eine bestimmte Klasse von Prozessen, die zwar theoretisch algorithmisch lösbar ist, in der Praxis jedoch an der Komplexität scheitert.

In eigener Sache: Schreiben sie mich gerne direkt an, wenn sie einen Austausch zu dem Thema wünschen. Linkedin: https://www.linkedin.com/in/heusinger/ oder nutzen Sie unser Kontaktformular.

Mit dem Aufkommen von Large Language Models (LLMs) keimte die Hoffnung, auch diese Blockerprozesse adressieren zu können. Doch schnell wurde deutlich: LLMs sind nicht deterministisch, sie halluzinieren und liefern Ergebnisse, die nur schwer auditierbar sind. Für kritische Prozesse mit regulatorischen Anforderungen reicht das nicht aus.

In der Forschung wird deshalb ein neuer Ansatz diskutiert: AI-augmented algorithms – hybride Architekturen, in denen deterministische Algorithmen und KI gezielt zusammenwirken. Gemeinsam mit der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) konnten wir in einem Pilotprojekt zeigen, dass dieser Ansatz in der Praxis funktioniert.

Problemstellung: Zoll- und Containerklassifikation

Die Zoll- und Containerklassifikation ist eine der Kernaufgaben im internationalen Handel. Theoretisch scheint sie klar strukturiert:

  • Jeder Container enthält eine Ware.
  • Diese wird einer Zolltarifnummer (HS-Code) zugeordnet.
  • Daraus ergeben sich Zollsatz, Lagerung und Sicherheitsprüfung.

Auf dem Papier ist das ein deterministischer Prozess. In der Praxis jedoch entsteht eine nahezu unbeherrschbare Komplexität:

  1. Mischladungen: Ein Container kann hunderte verschiedene Produkte enthalten.
  2. Unvollständige oder mehrdeutige Angaben: Papiere enthalten oft nur grobe Beschreibungen („Maschinenbauteil“).
  3. Sonderregelungen: Handelsabkommen wie EU–Südamerika, Brexit oder Sanktionen führen zu abweichenden Regeln.
  4. Abweichungen: Gefahrgut, Kühlketten oder Dual-Use-Güter erfordern besondere Behandlung.
  5. Temporäre Ausnahmen: In Krisenzeiten, wie während der Pandemie bei medizinischen Produkten, gelten zeitlich begrenzte Regelungen.

All diese Fälle sind prinzipiell regelbasiert abbildbar. Doch das Regelwerk würde so umfangreich, dass es kaum noch wartbar wäre. Kleine Änderungen in den Rahmenbedingungen könnten massive Anpassungen im System nach sich ziehen. Genau deshalb galt dieser Prozess lange als „nicht digitalisierbar“.

Ansatz: AI-augmented Algorithms

Im HHLA-Pilotprojekt haben wir uns diesem Problem gestellt und bewusst eine hybride Architektur gewählt. Ziel war es, die Stärken beider Welten – deterministische Algorithmen und KI – zu kombinieren.

Deterministischer Kern

Unverrückbare Regeln wie gesetzliche Vorschriften, Abgabenberechnungen oder zwingende Sicherheitsstandards wurden in einem klassischen Algorithmus abgebildet. Dieser Teil bleibt deterministisch, transparent und auditierbar.

KI-gestützte Vorverarbeitung

LLMs kamen dort zum Einsatz, wo die Regelkomplexität explodierte. Konkret:

  • Interpretation von unklaren oder unvollständigen Warenbeschreibungen.
  • Normalisierung unterschiedlicher Formulierungen.
  • Clustering von Sonderfällen, um Variantenvielfalt zu reduzieren.

Zusammenspiel

Die KI liefert Vorentscheidungen und standardisierte Inputs, der Algorithmus trifft die endgültigen, rechtlich bindenden Berechnungen. So entsteht ein System, das die Flexibilität menschlicher Interpretation mit der Strenge deterministischer Logik verbindet.

Ergebnisse aus dem Pilotprojekt

Das Zusammenspiel von KI und Algorithmus brachte mehrere Vorteile:

  • Transparenz und Auditierbarkeit: Die endgültigen Entscheidungen basieren auf klar nachvollziehbaren Regeln.
  • Flexibilität: Sonderfälle können realistisch verarbeitet werden, ohne dass das System kollabiert.
  • Robustheit: Anpassungen an neue Handelsabkommen oder temporäre Ausnahmen lassen sich schneller einpflegen.
  • Effizienz: Der manuelle Aufwand für Zollklassifikation sank deutlich, während die Bearbeitungszeit pro Container drastisch reduziert wurde.

Damit gelang erstmals die vollständige Automatisierung eines Prozesses, der bislang als „nicht digitalisierbar“ galt.

Einordnung: Drei Typen von Aufgaben

Das HHLA-Projekt zeigt auch, wie wir Aufgaben systematisch klassifizieren können:

  1. Algorithmisch automatisierbar: Der klassische Fall – klare Regeln, deterministisch lösbar. Trotz 20 Jahren Digitalisierung sind viele dieser Prozesse noch nicht vollständig umgesetzt.
  2. Theoretisch algorithmisch automatisierbar, praktisch aber zu komplex: Die Blockerprozesse, die in der Vergangenheit meist aufgeschoben wurden. Hier bieten AI-augmented algorithms nun eine Lösung.
  3. Kommunikationserforderlich: Aufgaben, die Sprache, Aushandeln oder Interpretation benötigen. Mit LLMs rücken auch sie zunehmend in Reichweite.

Die eigentliche Innovation liegt in Typ 2 – Prozesse, die bislang unüberwindbare Komplexität darstellten, können heute mit hybriden Architekturen adressiert werden.

Implikationen für Unternehmen

Das Beispiel zeigt deutlich: Die nächste Welle der Digitalisierung wird nicht durch „mehr KI“ allein entstehen. Stattdessen geht es darum, Architekturen zu entwickeln, in denen Algorithmen und KI gezielt zusammenarbeiten.

Für Unternehmen bedeutet das:

  • Investitionssicherheit: Bestehende Systeme müssen nicht ersetzt, sondern modular erweitert werden.
  • Compliance: Rechtliche Vorgaben bleiben überprüfbar und auditierbar.
  • Skalierbarkeit: Prozesse, die bislang von Expert:innen dominiert wurden, können standardisiert und vervielfältigt werden.
  • Wettbewerbsvorteil: Wer diese Blockerprozesse zuerst automatisiert, gewinnt Geschwindigkeit und Effizienz.

Fazit

Nach zwei Jahrzehnten Digitalisierung bleibt viel zu tun. Klassisch algorithmisch lösbare Prozesse sind keineswegs abgeschlossen. Kommunikationsaufgaben öffnen sich langsam durch LLMs. Doch der eigentliche Durchbruch liegt dazwischen: in den Prozessen, die zwar deterministisch beschreibbar, aber praktisch zu komplex für reine Algorithmen waren.

Das HHLA-Pilotprojekt zeigt: Mit AI-augmented algorithms lassen sich diese Blockaden überwinden. Prozesse, die lange als „nicht digitalisierbar“ galten, werden transparent, auditierbar und gleichzeitig flexibel genug für die Realität.

Wir werden diesen Ansatz bald auch in unseren kostenlosen Prozessrechner aufnehmen. Wenn Sie vor ähnlichen Herausforderungen stehen, sprechen Sie uns gerne direkt an – wir teilen unsere Erfahrungen aus dem Pilotprojekt.

Welche Prozesse sind in Ihrem Unternehmen bisher unantastbar geblieben?

Impact messbar machen für bessere strategische Entscheidungen in der Digitalisierung

Wenn wir bei Kehrwasser von Digitalisierung sprechen, dann nicht, weil es ein schönes Schlagwort ist. Für uns ist es ein Arbeitsauftrag. Wir wollen uns selbst und unsere Kunden in einen Automatisierungsgrad von über 90 Prozent bringen. Damit das gelingt, mussten wir lernen, eine Frage ernsthaft zu beantworten: Welche Maßnahmen entfalten welchen Impact?

Das klingt selbstverständlich. In der Praxis ist es das nicht. „Impact“ wird in vielen Diskussionen als Worthülse verwendet – ein Ersatzwort für etwas Wichtiges, ohne dass genau klar wäre, was damit gemeint ist. Wir haben gelernt, dass Impact nur dann hilfreich ist, wenn er messbar wird und uns hilft, strategische Entscheidungen besser zu treffen.

Impact als Orientierung – nicht als Schlagwort

In Projekten erleben wir immer wieder: Maßnahmen werden nach Budget oder Sichtbarkeit priorisiert, nicht nach Wirkung. Ein neues System, ein zusätzlicher Prozess, ein weiteres Tool – alles kann intern als Fortschritt gelten, solange es eingeführt ist. Doch was ist damit tatsächlich erreicht?

Wir begannen, uns eine andere Frage zu stellen: Welche Engpässe sind wirklich gelöst? Welche Produktivität ist freigesetzt? Welche Abhängigkeiten sind stabilisiert? Wenn Impact so verstanden wird, entsteht eine klare Orientierung. Er zeigt nicht nur, ob ein Projekt erfolgreich abgeschlossen wurde, sondern ob es wirklich etwas verändert.

Impact und Produktivität

Für uns ist der erste Grund, Impact ernst zu nehmen, ganz pragmatisch: Produktivität. Wir können nur dann sinnvoll priorisieren, wenn wir wissen, welche Maßnahmen den größten Effekt haben. Das betrifft interne Entscheidungen genauso wie Kundenprojekte.

Wenn klar ist, welche Investition am stärksten auf Produktivität einzahlt, dann wird auch sichtbar, was wir am dringendsten angehen müssen. Das verbessert nicht nur unsere Planung, sondern gibt auch Hinweise, wo wir den größten wirtschaftlichen Nutzen erwarten dürfen. Manchmal reicht eine kleine Veränderung an der richtigen Stelle, um eine ganze Kette von Verbesserungen auszulösen.

Impact und gesellschaftlicher Nutzen

Der zweite Grund ist uns ebenso wichtig. Wir wollen mit Digitalisierung nicht nur betriebswirtschaftliche Ergebnisse erzielen. Wir wollen zeigen, dass wirtschaftlicher Nutzen und gesellschaftlicher Nutzen zusammenfallen können – jedenfalls dann, wenn die richtigen Baustellen identifiziert werden.

Ein Problem, das wirklich gesellschaftlich relevant ist, hat fast immer auch ein enormes ökonomisches Gewicht. Man spricht nicht umsonst von einem „Billion-Dollar-Problem“. Damit ist gemeint: Die Lösung ist so relevant, dass Menschen in der Gesamtheit bereit wären, Milliarden dafür zu investieren. Wenn Digitalisierung solche Probleme adressiert, entsteht Wert auf beiden Ebenen.

Ein Beispiel aus der Praxis

Wir haben diese Logik im Kleinen erlebt, als wir das Institut für Photonische Technologien (IPHT) unterstützt haben. Das Projekt war für sich genommen überschaubar. Es ging um die Verbesserung bestimmter Prozesse.

Doch die Wirkung entfaltete sich entlang der Bedarfskette. ZEISS konnte dadurch seine Innovationskraft stärken. ASML, als Kunde von ZEISS, reduzierte Risiken in seiner Entwicklung. TSMC wiederum profitierte von stabileren Produktionsbedingungen. Am Ende stand ein Beitrag zur Stabilität der globalen Chipversorgung.

Was auf den ersten Blick wie ein lokales Projekt aussah, wurde zu einem Baustein in einem global relevanten Prozess. Impact zeigt sich oft erst, wenn man die Kaskade von Wirkungen betrachtet.

Impact messbar machen – ein pragmatischer Ansatz

Wie lässt sich Impact nun messen? Aus unserer Erfahrung nicht durch starre Kennzahlen allein. Es braucht eine Mischung aus qualitativen und quantitativen Indikatoren. Wir betrachten zum Beispiel, ob durch eine Maßnahme Durchlaufzeiten sinken, Ausfallrisiken reduziert werden oder neue Umsätze möglich werden. Ebenso wichtig ist, ob die Arbeit für Mitarbeiter sinnvoller wird – weniger repetitiv, besser passend zu ihren Fähigkeiten, stärker anerkannt.

Das Entscheidende ist die Vergleichbarkeit. Wenn mehrere Maßnahmen im Raum stehen, muss klar werden, welche davon die größte Wirkung entfaltet. Nur dann lassen sich Prioritäten setzen, die auch im Alltag tragen. Impact ist damit nicht ein abstraktes Konstrukt, sondern ein Kompass, der bei knappen Ressourcen Orientierung gibt.

Warum gerade Mittelständler profitieren

Für mittelständische Unternehmen ist dieser Ansatz besonders relevant. Sie sind meist Teil größerer Ökosysteme, oft als Zulieferer oder Nischenanbieter. Ihre Ressourcen sind begrenzt, ihre Investitionen müssen präzise wirken. Gleichzeitig verfügen sie über ein detailliertes Prozesswissen, das es ermöglicht, Hebelpunkte schneller zu erkennen.

Impact-Messung hilft ihnen, die Wirkung ihrer Maßnahmen sichtbar zu machen und damit Entscheidungen zu treffen, die über das eigene Haus hinaus Wirkung entfalten. In einem Umfeld, in dem Schlagworte schnell wechseln, schafft das eine belastbare Grundlage.

Fazit

Impact ist kein Modewort, sondern die Bedingung dafür, dass Digitalisierung funktioniert. Wenn wir Wirkung messbar machen, können wir Prioritäten setzen, die wirklich zählen. Das verbessert nicht nur die Produktivität, sondern zeigt auch, dass wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Nutzen zusammenfallen können, wenn man die relevanten Probleme adressiert.

Ausblick: Nächster Artikel der Serie

Damit stellt sich die nächste Frage: Warum wollten wir eigentlich Digitalisierung – und warum bleibt Produktivität dabei der Maßstab? Im zweiten Artikel dieser Serie gehen wir dieser Frage nach und zeigen, wie sich die ursprünglichen Erwartungen an Digitalisierung entwickelt haben – und warum gerade jetzt der Moment gekommen ist, das Ziel neu zu definieren.

Der EU AI Act: Orientierung für Manager im Mittelstand

Die Europäische Union hat mit dem AI Act erstmals einen umfassenden Rechtsrahmen für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz geschaffen. Während KI-Anwendungen in vielen Bereichen Chancen eröffnen, wächst zugleich die Sorge um Sicherheit, Transparenz und Grundrechte. Der AI Act setzt hier an und schafft ein verbindliches Ordnungssystem. Für Entscheider im Mittelstand bedeutet das: Klarheit in einem Feld, das bislang oft unübersichtlich war.

Das Problem

Unternehmen implementieren zunehmend KI-Systeme – ob in der Kundenkommunikation, im Personalmanagement oder in der Produktionssteuerung. Dabei ist oft unklar, welche rechtlichen Anforderungen gelten. Systeme, die im Hintergrund Prozesse optimieren, wirken harmlos, doch es gibt Anwendungen, die tief in Grundrechte eingreifen können: Gesichtserkennung, automatisierte Kreditentscheidungen oder Bewerberauswahl ohne menschliches Zutun. Ohne klare Regeln riskieren Unternehmen nicht nur regulatorische Sanktionen, sondern auch Reputationsverluste und den Vertrauensverlust bei Kunden und Mitarbeitenden.

Kontext & Analyse

Der AI Act ordnet KI-Systeme nach ihrem Risiko. Entscheidend ist dabei nicht die technische Funktionsweise, sondern der konkrete Anwendungsfall.

Unzulässiges Risiko (verboten): Systeme, die Menschen manipulieren, ihre Verletzlichkeit ausnutzen oder Social Scoring betreiben, sind in der EU nicht erlaubt. Beispiele sind Emotionserkennung in Schulen oder am Arbeitsplatz, ungezieltes Sammeln von Gesichtsbildern oder die Bewertung von Personen allein anhand sozialer Merkmale.

Hohes Risiko (stark reguliert): Hierzu gehören KI-Systeme in Bereichen wie kritischer Infrastruktur, Justiz, Migration, Gesundheitsversorgung oder Bildung. Auch Anwendungen im Personalwesen – etwa KI-gestützte Auswahlprozesse – fallen darunter. Für diese Systeme gelten strenge Anforderungen: Datenqualität, Nachvollziehbarkeit, Risikomanagement, technische Robustheit und menschliche Kontrolle müssen gewährleistet sein.

Begrenztes Risiko (Transparenzpflicht): KI-Systeme wie Chatbots oder Deepfakes dürfen genutzt werden, müssen aber für Nutzer klar als KI erkennbar sein. Die Verantwortung liegt hier vor allem bei der transparenten Kommunikation.

Minimales Risiko (keine Regulierung): Viele alltägliche Anwendungen, etwa Spamfilter oder KI in Videospielen, fallen in diese Kategorie. Allerdings verändert sich dieser Bereich mit dem Aufkommen generativer KI rasant. Anwendungen, die bislang als gering riskant galten, können durch neue Fähigkeiten an Bedeutung und damit an Regulierungspflicht gewinnen【5†Future-of-Life-InstituteAI-Act-overview-30-May-2024.pdf】.

Für Manager im Mittelstand ist die Botschaft klar: nicht jede KI ist gleich riskant. Maßgeblich ist, wofür sie eingesetzt wird. Ein Chatbot zur Terminbuchung ist anders zu bewerten als ein System, das Personalentscheidungen trifft.

Optionen und Einsichten

Warum reguliert die EU überhaupt? Die Motivation liegt in zwei Dimensionen: Schutz von Grundrechten und Sicherung fairer Marktbedingungen.

KI kann Verhalten beeinflussen und Entscheidungsprozesse entziehen, ohne dass Betroffene es merken. Systeme, die Menschen anhand sozialer Kriterien bewerten, bergen die Gefahr von Diskriminierung. Zudem können Unternehmen durch intransparente Praktiken Wettbewerbsvorteile erzielen, die langfristig Vertrauen in Märkte und Institutionen untergraben. Der AI Act soll hier klare Grenzen ziehen.

Für Unternehmen ergeben sich drei zentrale Handlungsfelder:

  • Prüfen: Jedes Unternehmen sollte seine eingesetzten KI-Systeme inventarisieren und den Risikoklassen zuordnen. Das betrifft nicht nur selbst entwickelte, sondern auch eingekaufte Systeme.
  • Absichern: Für Hochrisiko-Anwendungen sind Prozesse erforderlich, die Datenqualität sichern, Dokumentation ermöglichen und menschliche Aufsicht gewährleisten. Dies bedeutet auch, Verantwortlichkeiten klar zu definieren.
  • Kommunizieren: Transparenz wird Pflicht. Ob Kunden, Mitarbeitende oder Aufsichtsbehörden – wer KI nutzt, muss deren Einsatz offenlegen und erklären können.

Gerade im Mittelstand kann dies herausfordernd sein. Doch die regulatorischen Vorgaben lassen auch Chancen erkennen: Wer frühzeitig Transparenzstandards etabliert, kann sich im Wettbewerb als vertrauenswürdiger Partner positionieren.

Ausblick

Die Umsetzung des AI Act erfolgt in Stufen:

  1. Nach sechs Monaten gelten die Verbote für unzulässige Systeme.
  2. Nach zwölf Monaten greifen die Vorgaben für General Purpose AI, also große Sprach- und Basismodelle.
  3. Hochrisiko-Systeme müssen innerhalb von zwei bis drei Jahren die Vorgaben erfüllen.

Für Entscheider bedeutet das: Es bleibt keine Zeit zu warten. Unternehmen sollten jetzt beginnen, ihre KI-Landschaft zu analysieren und Prozesse zur Risikobewertung und Dokumentation einzuführen. Je nach Branche und Einsatzgebiet wird dies ein überschaubarer oder ein substantieller Aufwand sein.

Offen bleibt, wie die EU die Einhaltung in der Breite überwachen und Verstöße effektiv sanktionieren wird. Mit der Einrichtung eines AI Office und nationaler Behörden entsteht zwar ein Kontrollrahmen, doch dessen praktische Durchsetzung muss sich erst beweisen. Sicher ist jedoch: Unternehmen, die frühzeitig ihre KI-Praktiken prüfen und anpassen, gewinnen Handlungssicherheit und reduzieren Risiken. Für den Mittelstand kann dies ein strategischer Vorteil sein.

Fazit

Der AI Act ist keine Innovationsbremse, sondern ein Versuch, KI-Nutzung mit europäischen Werten in Einklang zu bringen. Für Manager im Mittelstand bietet er Orientierung: Welche Systeme sind erlaubt, welche streng reguliert, welche gänzlich verboten. Die Aufgabe besteht nun darin, die eigenen Anwendungen entlang dieser Linien einzuordnen und die notwendigen Schritte einzuleiten. Wer dies proaktiv angeht, stärkt nicht nur die eigene Compliance, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit im europäischen Markt.

Automatisierte T-Shirt-Produktion als Blaupause für eine profitable Reindustrialisierung Europas

Die westlichen Volkswirtschaften stehen vor der Herausforderung, Industriezweige zurückzuholen, die in den letzten Jahrzehnten in Billiglohnländer ausgelagert wurden. Ein besonders prominentes Beispiel ist die Textilproduktion. Anhand eines konkreten, technischen Szenarios zeigt dieser Artikel, wie ein automatisiertes System zur T-Shirt-Produktion, gestützt durch sogenannte Sewbots, als wirtschaftlich tragfähiges Muster für eine neue industrielle Wertschöpfung in Europa dienen kann.

Technologischer Wandel und wirtschaftliche Chance

Bis heute wird der Großteil der in Europa konsumierten T-Shirts in Asien gefertigt – zu niedrigen Stückkosten, aber mit erheblichen sozialen, ökologischen und ökonomischen Nebenwirkungen. Die entscheidende Wertschöpfung – sowohl finanziell als auch technologisch – findet dabei außerhalb Europas statt. Doch mit dem technologischen Fortschritt im Bereich der Robotik und CNC-gesteuerten Fertigungssysteme eröffnen sich neue Möglichkeiten, textile Fertigungsprozesse zumindest teilweise zu automatisieren und damit wieder wirtschaftlich sinnvoll im Inland durchzuführen.

Erste Prototypen sogenannter Sewbots sind heute in der Lage, einfache Nähprozesse wie das Schließen von Seitennähten, das Annähen von Etiketten oder das Säumen von Kanten mit hoher Wiederholgenauigkeit und Geschwindigkeit auszuführen. Komplexere Arbeitsschritte wie das Einsetzen von Ärmeln oder das exakte Anbringen dehnbarer Bündchen bleiben vorerst menschlicher Hand vorbehalten. Doch auch hier zeigen sich durch den Einsatz adaptiver Vision-Systeme und mechanischer Greifer neue Ansätze für Teilautomatisierungen.

Ein skalierbarer Produktionsansatz

Die Herstellung eines modernen T-Shirts lässt sich in mehrere Schritte gliedern – vom Zuschnitt über das Verbinden der Stoffteile bis hin zum Endsaum und Labeling. Während der Zuschnitt bereits heute durch computergesteuerte Lasersysteme effizient automatisierbar ist, können auch zentrale Nähprozesse durch den Einsatz einfacher CNC-Plattformen mit Industrienähmaschinen übernommen werden. Ein durchdachtes System aus manuellem Eingriff und robotischer Unterstützung ermöglicht bereits jetzt eine Automatisierung von rund 60 bis 70 Prozent der Prozesskette.

Dabei ist der wirtschaftliche Hebel nicht zu unterschätzen: Ein Prototyp, bestehend aus einem XY-Schlitten, Steuerungseinheit und industrietauglicher Nähmaschine, kann bei geringen Investitionskosten von unter 4.000 Euro eine signifikante Entlastung von manueller Arbeit schaffen. Bereits bei kleiner Stückzahl rechnet sich die Anschaffung innerhalb weniger Produktionszyklen, zumal viele der Komponenten aus dem Maker-Bereich stammen und frei konfigurierbar sind.

Lokale Wertschöpfung als strategischer Vorteil

Diese technologische Möglichkeit hat weitreichende Folgen. Zum einen verbleiben die Gewinne – anders als beim Import aus Billiglohnländern – innerhalb Europas und fließen in die lokale Wirtschaft zurück. Zum anderen entstehen neue, qualifizierte Tätigkeiten im Bereich der Wartung, Systemintegration und Bedienung der automatisierten Anlagen. Zugleich können die Umweltbelastungen durch globale Logistikketten erheblich reduziert werden. Gerade im Bereich schnelllebiger Mode könnten lokale Mikrofabriken mit automatisierten Prozessen ein Gegengewicht zur Ressourcenverschwendung der Fast-Fashion-Industrie bilden.

Forschung und Politik als Enabler

Damit diese Entwicklung flächendeckend Wirkung entfalten kann, bedarf es einer gezielten Forschungs- und Industriepolitik. Zentrale Aufgaben bestehen in der Weiterentwicklung robuster Stoffgreifer, der Integration von Bildverarbeitung in Echtzeit sowie in der Standardisierung modularer Fertigungseinheiten. Auch Open-Hardware-Initiativen könnten hier eine wichtige Rolle spielen, indem sie Wissen zugänglich machen und Innovation beschleunigen.

Fazit

Die automatisierte T-Shirt-Produktion zeigt exemplarisch, dass Reindustrialisierung in Europa keine Vision für ferne Zukunft ist, sondern auf Basis bestehender Technologien bereits heute wirtschaftlich möglich erscheint. Es braucht keine milliardenschweren Großprojekte – oft genügen kluge Kombinationen aus bekannten Komponenten, ein pragmatischer Aufbau und die Bereitschaft, Automatisierung als produktiven Hebel und nicht als Bedrohung zu verstehen. Der DIY-Sewbot ist in diesem Kontext nicht nur ein technisches Experiment, sondern eine Blaupause für eine neue Generation schlanker, intelligenter und lokaler Industrieproduktion. Er zeigt, wie Europa in kleinen, konkreten Schritten Souveränität zurückgewinnen kann – wirtschaftlich, technologisch und gesellschaftlich.

America’s AI Action Plan: Zusammenfassung und europäische Perspektive

Der amerikanische AI Action Plan ist ein umfassendes Regierungsprogramm, das die technologische Führung der USA im Bereich Künstliche Intelligenz sichern soll. Schon in der Einleitung wird deutlich: Es geht um globale Dominanz, wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und nationale Sicherheit. Drei Pfeiler strukturieren den Plan: Beschleunigung von Innovation, Aufbau von Infrastruktur und internationale Diplomatie und Sicherheit. Die Strategie ist auf Geschwindigkeit, Deregulierung und enge Verzahnung von Industrie und Regierung ausgerichtet.

Für europäische Unternehmen stellt sich damit nicht nur die Frage, wie sie auf diese Dynamik reagieren, sondern auch, ob sie sich weiterhin auf politische Rahmenbedingungen verlassen können oder selbst die wirtschaftlichen Impulse setzen müssen, um Politik und Regulierung in eine innovationsfreundlichere Richtung zu bewegen.

Pfeiler I: Beschleunigung von Innovation

Der erste Pfeiler setzt auf weitgehende Deregulierung, um private Investitionen und schnelle Markteintritte zu fördern. Inhalte sind u. a.:

  • Abbau regulatorischer Hürden und Einschränkungen bei Bundesprogrammen
  • Stärkung von Meinungsfreiheit und ideologiefreien Modellen in öffentlichen Beschaffungen
  • Unterstützung von Open-Source- und Open-Weight-Modellen als Innovationsmotor und geopolitisches Instrument
  • Förderung der KI-Adoption durch Pilotprojekte, Standards und branchenspezifische Testumgebungen
  • Programme für KI-Weiterbildung, Umschulung und den Erhalt von Arbeitsplätzen
  • Investitionen in KI-unterstützte Wissenschaft, hochwertige Datensätze und Grundlagenforschung
  • Aufbau von Evaluations- und Testumgebungen für KI-Systeme
  • Beschleunigter Einsatz von KI in Bundesbehörden und im Verteidigungsministerium
  • Schutz geistigen Eigentums und Bekämpfung manipulativer synthetischer Medien

Pfeiler II: Aufbau von Infrastruktur

Dieser Abschnitt adressiert die physische Grundlage der KI-Führung:

  • Vereinfachte Genehmigungsverfahren für Rechenzentren, Halbleiterfertigung und Energieprojekte
  • Modernisierung und Ausbau des Stromnetzes mit Fokus auf stabile, steuerbare Energiequellen (inkl. Kernkraft)
  • Wiederaufbau der Halbleiterproduktion in den USA
  • Hochsichere Rechenzentren für Militär- und Geheimdienstanwendungen
  • Fachkräfteoffensive für Infrastrukturberufe
  • Stärkung der Cybersicherheit kritischer Infrastrukturen und Sicherstellung „secure-by-design“-Architekturen
  • Ausbau der Fähigkeiten für Incident Response bei KI-bezogenen Ausfällen

Pfeiler III: Internationale Diplomatie und Sicherheit

Die USA wollen ihre technologische Führung exportieren und geopolitisch absichern:

  • Export des gesamten KI-Technologiestacks an Verbündete
  • Aktive Einflussnahme in internationalen Standardisierungs- und Governance-Gremien
  • Verstärkte Exportkontrollen für Hochleistungsrechner und Halbleitertechnologien
  • Globale Abstimmung bei Technologieschutzmaßnahmen
  • Systematische Bewertung von nationalen Sicherheitsrisiken durch KI-Modelle
  • Biotechnologische Sicherheitsstandards für Forschung und Industrie

Analyse

Der Plan ist in seiner Logik konsistent: Geschwindigkeit vor Vorsicht, nationale Interessen vor globalen Konsensprozessen, direkte Industriekooperation statt langwieriger politischer Kompromisse. Damit schaffen die USA einen klaren Wettbewerbsvorteil – nicht nur technologisch, sondern auch in der geopolitischen Positionierung.

Für Europa birgt dies ein strategisches Dilemma: Der regulatorische Fokus auf Vorsicht und Schutz kann in einem globalen Innovationswettlauf dazu führen, dass entscheidende Wertschöpfungsketten ins Ausland abwandern.

Ausblick: Europäische Handlungsoptionen

Wir werden in einem Folgebericht einen Gegenentwurf entwerfen, der aufzeigt, wie europäische Unternehmen – auch ohne initiale politische Weichenstellung – durch eigene Investitionen, offene Kooperationsmodelle und marktorientierte Allianzen eine dynamische KI-Industrie aufbauen können. Ziel ist es, wirtschaftliche Fakten zu schaffen, die die europäische Politik dazu zwingen, innovationsfreundlichere Rahmenbedingungen zu setzen.

Virtuelles Kraftwerk digital steuern durch Energieorchestrierung – was die Energiewirtschaft von der IT lernen kann

Ich stand vor ihnen mit dem Schlüssel in der Hand – und doch sahen sie nur das Schloss und schüttelten den Kopf. IT-Infrastruktur und Energiewirtschaft haben keine Gemeinsamkeiten? Aber voll: Systeme wie virtuelle Kraftwerke und Techniken aus der Virtualisierung für Cloudsysteme folgen denselben Grundprinzipien. Sie orchestrieren verteilte Ressourcen, passen sich an Bedarfe an und skalieren automatisch.

Der Punkt ist, dass die Energiewirtschaft gerade das Rad neu erfindet. So fühlt es sich zumindest an. Ich bin immer wieder Erstaunt dass viele etwas für unmöglich halten, was seit zwanzig Jahren zum Grundlagenwissen jedes Informatikstudenten im zweiten Semester gehört.

Nur so wird Dezentralität praktikabel: Durch digitale Energieorchestrierung wird aus einer Vielzahl einzelner Erzeuger und Verbraucher ein robustes Gesamtsystem. Der Vorteil liegt in der Resilienz gegenüber Ausfällen, der Effizienz bei schwankender Nachfrage und der Möglichkeit, kleinteilige Infrastruktur wirtschaftlich tragfähig zu betreiben.

Wenn Sie am Ball bleiben wollen und die neusten Entwicklungen einfach, auf Entscheiderlevel erklärt haben wollen, empfiehlt sich ein Abonnement unsere Newsletters – direkt aus Forschung und Anwendung, verständlich aufbereitet für Entscheider.

Problem: Warum klassische Energieinfrastruktur nicht mehr reicht

Die Energiewende bringt eine fundamentale Verschiebung in der Infrastruktur mit sich: Weg von zentralen Kraftwerken, hin zu verteilten Erzeugern, Speichern und Verbrauchern. Diese Systeme lassen sich mit manuellen Eingriffen nicht mehr effizient steuern.

  • Das Netz wird volatiler
  • Der Verbrauch wird kleinteiliger
  • Der Steuerungsbedarf steigt

Ohne digitale Lösungen, die in Nanosekunden die Ressourcenverteilung steuern, droht nicht nur Ineffizienz – es ist gar nicht manuell machbar. Für Versorger, Betreiber, aber auch für institutionelle Investoren drohen also – ganz wie in der Digitalisierung – Berater, Dienstleister und Engineeringteams, die statt bekannte und gut erprobte Lösungen zu adaptieren, das Rad neu erfinden. Und damit alle Kinderkrankheiten, die Nutzer vergrezen

Das ist in der jüngeren, deutschen Ingenieursgeschichte ja mehr als einmal vorgekommen: Die Automobilhesteller hätten die Möglichkeiten, die User Interfaces und moderne User Experience

Was ist ein virtuelles Kraftwerk

Ein virtuelles Kraftwerk ist kein Gebäude aus Beton und Stahl, sondern eine Idee – eine digitale Klammer, die viele kleine, verstreute Energiequellen zu einem großen Ganzen zusammenfasst. Windräder an der Küste, Solarmodule auf Hausdächern im Süden, ein Batteriespeicher in einem Gewerbegebiet, eine Biogasanlage neben einem Bauernhof – all das bleibt physisch voneinander getrennt, wird aber virtuell verbunden, über eine Softwareplattform, die diese Anlagen überwacht, steuert und koordiniert. In Echtzeit fließen Daten zusammen: Wetterprognosen, aktuelle Einspeiseleistungen, Ladezustände, Netzlasten. Was auf den ersten Blick wie ein Flickenteppich dezentraler Stromproduktion wirkt, verwandelt sich unter der Oberfläche in ein fein orchestriertes System.

Die Plattform berechnet im Nanosekundentakt, wer wann wie viel Strom einspeisen oder verbrauchen soll. Nicht nur, um möglichst effizient zu arbeiten, sondern auch, um auf die ständig schwankenden Anforderungen des Stromnetzes zu reagieren – oder auf die Preise an der Strombörse. Die Biogasanlage kann gezielt hochgefahren werden, wenn eine Windflaute bevorsteht, ein Batteriespeicher entlädt sich, wenn die Sonne hinter Wolken verschwindet. So entsteht aus vielen kleinen Unsicherheiten eine überraschende Stabilität.

Und nochmal: Das passiert täglich, nanosekundlich, seit Jahrzehnten

Was früher Großkraftwerken vorbehalten war, wird heute von Algorithmen übernommen: das Gleichgewicht im Netz zu sichern, Angebot und Nachfrage in Einklang zu bringen, Schwankungen auszugleichen, bevor sie spürbar werden. Das virtuelle Kraftwerk ist damit nicht nur ein technisches Konzept – es ist ein neues Narrativ der Energieversorgung: nicht zentral, sondern vernetzt; nicht monolithisch, sondern modular; nicht statisch, sondern lernfähig. Und vielleicht ist gerade das sein größter Fortschritt.

Wie skalierbare Energie funktioniert: Verteilte Systeme, zentral orchestriert

Cloud-Plattformen wie AWS oder Azure bestehen aus zehntausenden Servern. Virtuelle Kraftwerke bestehen aus zehntausenden dezentralen Assets: PV-Anlagen, Batteriespeicher, steuerbare Verbraucher.

Autoscaling durch datenbasierte Steuerung: In der Cloud werden Instanzen automatisch hoch- und heruntergefahren. Im Energiesystem lässt sich genauso automatisiert laden, entladen, puffern oder abschalten. Entscheidend ist nicht die Hardware, sondern die Regelintelligenz.

Prognosebasierte Optimierung

Forecasts, wie man sie in der Cloud für Auslastung verwendet, finden ihre Entsprechung in Wetterdaten, Lastprognosen oder Strompreisindikatoren. Moderne Steuerzentralen beziehen diese Daten automatisiert ein.

Nur mal als Gedanke: Wenn man da noch predictive Analytics – also KI, die in die Zukunft denken kann und heute schon bessere Wettermodelle ermöglicht, als es die Standardmodelle seit Jahrzenten tun.

Orchestrierung statt Einzelsteuerung

In der IT hat man gelernt, dass man Instanzen nicht einzeln steuern kann. Man orchestriert. In der Energie ist das ähnlich: Systeme wie EOS oder proprietäre Leitsysteme koordinieren Stromflüsse, Speicherverhalten und Reaktionszeiten.

EOS ist ein quelloffenes Steuerungssystem, das speziell für dezentrale Energiesysteme entwickelt wurde. Es ermöglicht die intelligente Koordination von Erzeugung, Speicherung und Verbrauch auf Basis aktueller Daten und vordefinierter Regeln. Durch die Offenheit des Systems lassen sich individuelle Anforderungen flexibel integrieren.

Einsichten aus der Praxis: Was wir bei Solar Estate gelernt haben

Für unseren Kunden Solar Estate haben wir ein System entworfen, das die komplexe Betriebslogik von Photovoltaikanlagen in eine digitale Struktur überführt. Eigentumsverhältnisse, Verträge, Ertragsdaten, Wartungszyklen – all das wird nicht mehr manuell verwaltet, sondern fließt in einem integrierten System zusammen. Messwerte und Dokumente, Benachrichtigungen und Investorenberichte – sie greifen ineinander wie Zahnräder in einem still laufenden Uhrwerk.

Das Entscheidende dabei ist nicht die Digitalisierung an sich, sondern ihr Grad an Durchdringung: Die Prozesse steuern sich weitgehend selbst, Personalaufwand sinkt, menschliche Fehler werden zur Randerscheinung, und das, was früher in Excel-Tabellen versteckt war, wird sichtbar – für Betreiber ebenso wie für Kapitalgeber.

Die Architektur, die hinter diesem System steht, hat sich bewährt. Heute setzen wir sie auch dort ein, wo die Anforderungen ähnlich sind: bei Stadtwerken, die ihre dezentralen Anlagen intelligenter verknüpfen wollen, oder bei Betreibern von Quartierspeichern, die nach Effizienz suchen – nicht als Schlagwort, sondern als messbare Praxis.

Jetzt ist der richtige Zeitpunkt

In vielen Teilen der Energiebranche zeigen sich die Spuren der Geschichte. Systeme, die einst für einzelne Anlagen oder Regionen gebaut wurden, stoßen heute an ihre Grenzen. Sie waren nicht dafür gedacht, zu wachsen – nicht über mehrere Standorte hinweg, nicht mit individuell zugeschnittenen Tarifen, und schon gar nicht in einer Welt, in der Speicher, Netze und Verbraucher automatisch miteinander verhandeln. Doch genau das wird zur Voraussetzung: Skalierung ist kein technischer Luxus mehr, sondern ein struktureller Imperativ.

Die gute Nachricht: Die Mittel, um diese Systeme weiterzudenken, existieren längst. Konzepte aus der modernen IT – modulare Architekturen, offene Schnittstellen, erprobte Open-Source-Werkzeuge – lassen sich auf die Energieinfrastruktur übertragen. Was in der Cloud-Industrie längst Standard ist, beginnt nun, auch im Energiesektor seine Form zu finden. Es geht nicht darum, alles neu zu bauen – sondern Bestehendes so zu öffnen, dass es sich bewegen kann.

Einladung

Wenn Sie aktuell an einem Projekt arbeiten, das wachsen soll – und sich fragen, wie das ohne mehr Personal funktionieren kann: Schreiben Sie uns.

Wir bringen unsere Erfahrungen aus Forschung und Umsetzung ein. Und zeigen, wie sich Energie skalieren lässt. Nicht mit mehr Technik. Sondern mit mehr Intelligenz.

Digitale Effizienz im Ausbau der Energiewende: Wie Solar Estate seinen Vertrieb neu konstruierte

Was passiert, wenn man ein datengetriebenes Vertriebsproblem nicht mit mehr Personal, sondern mit Mathematik und Systemdenken angeht? Die Antwort gibt ein Blick auf die Arbeitsweise von Solar Estate.

Das Problem: Vertriebsprozesse, die mitwachsen sollten – aber nicht konnten

Solar Estate plant und realisiert Photovoltaikprojekte auf Mehrfamilienhäusern in Deutschland. Die Nachfrage ist hoch, das Marktumfeld komplex. Jede Immobilie unterscheidet sich in rechtlicher, technischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Die Folge: Der Aufwand für die Analyse, Bewertung und Angebotserstellung wuchs exponentiell mit dem Projektvolumen. Trotz hoher Nachfrage geriet das Vertriebsteam an Grenzen.

Kern des Problems war eine Exceldatei mit mehreren tausend Feldern und Verknüpfungen, in der alle Aspekte eines Projekts abgebildet wurden. Diese Datei war zwar funktional, aber schwer zu warten, nicht versionierbar und für neue Mitarbeiter kaum verständlich.

Der Umbau: Von implizitem Wissen zur expliziten Struktur

Statt den Vertriebsprozess personell auszuweiten, wurde das Modell selbst zerlegt, abstrahiert und neu strukturiert. Was als Werkzeug zur Projektbewertung begonnen hatte, wurde zu einem logischen Framework weiterentwickelt:

  • Alle Eingabefelder wurden typisiert, normalisiert und mit Abhängigkeiten versehen
  • Berechnungslogiken wurden aus der Datei extrahiert und in modulare Recheneinheiten überführt
  • Der gesamte Prozess wurde als Entscheidungsbaum mit über 100 Pfaden formell abgebildet

Das Ergebnis war ein Framework, das nicht nur die Rechenarbeit übernahm, sondern auch Vertriebsszenarien, Projektkonstellationen und technische Restriktionen in ein einziges Modell integrierte.

Das Resultat: Vertriebszeit halbiert, Skalierbarkeit verdoppelt

Die neue Architektur ermöglicht heute:

  • eine standardisierte Erstbewertung innerhalb weniger Minuten
  • automatisierte Entscheidungsvorschläge für oder gegen Projekte
  • Echtzeit-Anpassung von Finanzierungsmodellen und technischem Zuschnitt
  • ein Rollenmodell, in dem juniorige Vertriebskräfte ohne tiefes Vorwissen sinnvoll arbeiten können

Im Ergebnis wurde die Zeit für eine belastbare Projektbewertung um mehr als 90% reduziert. Noch wichtiger: Das Vertriebssystem ist nun nicht nur effizienter, sondern auch robuster gegen Fehler und besser adaptierbar für neue Rahmenbedingungen.

Ein Beispiel für datengetriebenes Wachstum im Mittelstand

Solar Estate zeigt, wie sich aus einem lokalen Vertriebsproblem eine strukturierende Kraft für die Gesamtorganisation entwickeln kann. Der Umbau des Excelmodells war kein IT-Projekt im engeren Sinne, sondern eine strategische Reaktion auf ein operatives Skalierungsproblem.

Die zugrundeliegende Logik lässt sich verallgemeinern: Wer den impliziten Code seiner Arbeitsweise sichtbar macht, kann ihn automatisieren, modulieren und dauerhaft verbessern.

Ausblick: Von der Datei zum digitalen Produkt

Die Entscheidung, aus einem internen Tool ein formalisiertes Framework zu machen, war kein Selbstzweck. Es öffnet nun die Option, dieses Wissen als Produkt weiterzudenken: für Partnerunternehmen, für andere Regionen, für angrenzende Segmente der Energiewirtschaft.

Solar Estate hat mit diesem Schritt nicht nur seinen Vertrieb restrukturiert, sondern ein Fundament geschaffen, auf dem weitere digitale Werkzeuge entstehen können. Die Energiewende braucht Tempo – und Tempo entsteht dort, wo Komplexität beherrschbar wird.

German Free – ein Qualitätsmerkmal? Was wir Deutschen lernen müssen

„In Asien und den USA kursiert ein neues Qualitätsmerkmal: „German Free“. Gemeint ist nicht die Sprache, sondern ein System, das ohne 300 Formularfelder, ohne 12 Zwischenfreigaben und ohne perfektionistische Obsession auskommt.“ Der Satz stammt aus einem Kundengespräch, das nicht auf Ironie, sondern auf Frustration beruhte. Und er beschreibt einen Trend, der zunehmend auch europäische Unternehmen betrifft – insbesondere im Kontext der digitalen Transformation.

Problem

Deutsche Ingenieurskunst ist nicht das Problem. Aber wenn 90 % Komplexität zu 3 % Effizienz führen, und niemand mehr versteht, was eigentlich gelöst wird, dann stehen wir nicht vor einem Qualitätsproblem, sondern vor einem Strukturproblem. Dieses Strukturproblem betrifft nicht nur technische Systeme, sondern auch die Art, wie wir Arbeit und Zusammenarbeit im Rahmen der digitalen Transformation verstehen. Das Manager Magazin schrieb bereits 2023 über diesen Negativfaktor.

New Work hat wichtige Impulse gesetzt: Mehr Selbstbestimmung, mehr Respekt, weniger Hierarchie. Doch in der Praxis kippt dieses Modell oft in eine neue Form der Beliebigkeit. Das Ideal einer gleichwürdigen Arbeitskultur wird in vielen Fällen zu einem egalitären Wettbewerb um Zustimmung. Oberflächlicher Respekt ersetzt tiefere Verantwortung. Entscheidungen werden vermieden, statt getroffen. Das erinnert an die Kritik von Robert C. Martin: Ohne Struktur kippt jede Organisation in einen Zustand, in dem Beliebtheit mehr zählt als Qualität – ein Risiko, das auch viele Initiativen zur digitalen Transformation betrifft: „After all, Agile is all about egalitarianism. It is a rejection of command and control.“ (In The Large, 2. April 2018)

Kontext & Analyse

Historisch war es sinnvoll, Prozesse zu standardisieren, Qualität in Regeln zu fassen und Fehler durch Planung zu vermeiden. Viele deutsche Unternehmen wurden dadurch weltweit führend. Doch mit der digitalen Transformation verändert sich die Dynamik: Geschwindigkeit, Anpassungsfähigkeit und Nutzungsorientierung werden wichtiger als Regelkonformität.

In technologischen Systemen zeigt sich das besonders deutlich. Komplexität entsteht oft nicht aus fachlicher Notwendigkeit, sondern aus historisch gewachsenen Strukturen, internen Kompromissen und Sicherheitsbedenken. Die Folge: Statt technischer Exzellenz dominieren Absicherungslogik und Schnittstelleninflation. Das Ergebnis wirkt solide, ist aber schwerfällig – ein klarer Hemmschuh für jede digitale Transformation.

Ein Beispiel: Ein Projekt zur Einführung einer neuen Software in einem Mittelstandsunternehmen scheiterte daran, dass jedes Formularfeld durch drei Abteilungen abgestimmt werden musste. Der funktionale Kern war in zwei Wochen programmiert. Die Abstimmungen dauerten neun Monate. Das ist kein Einzelfall, sondern ein Symptom einer bremsenden Strukturlogik im Prozess der digitalen Transformation.

Parallel dazu wird in vielen Organisationen der autoritäre Top-Down-Stil abgelöst durch New-Work-orientierte Ansätze. Doch statt Innovation entsteht oft Orientierungslosigkeit. Denn wo keine strukturellen Vorgaben gemacht werden, entstehen informelle Machtstrukturen. Der Wunsch nach Konsens ersetzt die Fähigkeit zur Priorisierung. Entscheidungen brauchen Zustimmung aller oder passieren gar nicht. Auch das behindert die digitale Transformation.

Optionen / Einsichten

Wir arbeiten bei Kehrwasser und empfehlen das auch unseren Klienten, wenn sie in ihren Teams und Belegschaften digitale Transformation erfolgreich gestalten wollen: einen empirischen Ansatz, der Struktur und Respekt vereint. Es braucht keine importierten New-Work-Konzepte aus Kalifornien. Die europäische Aufklärung kennt bereits einen Begriff, der mehr Tiefe bietet als der verbreitete Respektbegriff: Würde. Würde impliziert Anerkennung – nicht als Gefühl, sondern als strukturellen Anspruch.

Statt zwischen zwei unbefriedigenden Polen zu schwanken – der alten, oft willkürlichen Hierarchie und der neuen, strukturlosen Konsenskultur – braucht es eine dritte Variante: eine, die strukturelle Klarheit schafft, indem sie eindeutig macht, wer was auf welcher Basis entscheidet; die auf empirischer Steuerung beruht, also auf der Frage, was wirkt und was nicht; die technische Modularität als Prinzip begreift, nach dem weniger oft mehr ist; die Verantwortung gegenüber Absicherung priorisiert; und die Anerkennung nicht als oberflächliches Etikett, sondern als verbindliches Prinzip behandelt.

Systeme, die auf diesen Prinzipien beruhen, sind anschlussfähig, wandlungsfähig und nutzerzentriert. Und sie sind frei von der Überfrachtung, die als „German“ kritisiert wird, ohne ihre Stärken zu verlieren. Damit werden sie zum belastbaren Fundament jeder erfolgreichen digitalen Transformation.

Ausblick

„German Free“ wird kein offizielles Label werden. Aber als inoffizielle Kritik trifft es einen Nerv. Es zeigt, dass Qualität heute anders verstanden wird: weniger als Perfektion, mehr als Nutzbarkeit. Organisationen, die das erkennen, können international anschlussfähig bleiben. Die Voraussetzung ist nicht ein KI-System, das alles optimiert. Sondern die Fähigkeit, Würde, Struktur und Vereinfachung als Fundament moderner Zusammenarbeit zu denken – und diese Prinzipien gezielt in die digitale Transformation zu überführen.