„Schätzen bringt doch eh nichts.“ Diesen Satz hört man oft – vor allem in Teams, die lange genug agil gearbeitet haben, um ihre eigenen Rituale zu hinterfragen. Und sie haben recht: Schätzungen liefern selten exakte Prognosen. Sie sagen nicht präzise voraus, was am Ende eines Sprints wirklich fertig wird.
Aber das verfehlt den Punkt.
Schätzen ist keine Wahl – es ist ein Naturgesetz der Planung
Sobald ein Projekt ein Ende hat – eine Deadline, ein Budget, ein Ziel – beginnen wir zu schätzen. Ob bewusst oder unbewusst.
Wer sagt: „Wir committen nichts mehr, wir arbeiten nur empirisch“, trifft trotzdem Entscheidungen auf Basis von Annahmen. Denn jedes „Ja“ zu einer Aufgabe ist ein implizites „Nein“ zu einer anderen. Dieses Verhältnis entsteht aus einer mentalen Schätzung – einer Intuition über Aufwand, Nutzen und Machbarkeit.
Das Problem ist nicht das Schätzen, sondern die Erwartung an Genauigkeit
Schätzungen werden oft dafür kritisiert, dass sie „falsch“ sind. Aber sie sollen gar nicht recht haben. Sie sollen Diskussionen anstoßen. Unterschiede sichtbar machen. Erfahrung mit Unsicherheit in Beziehung setzen.
Wenn jemand 3 Punkte sagt und jemand anderes 13, dann ist das Gespräch darüber wertvoller als die Zahl selbst. Das Nachdenken darüber, warum die Einschätzungen so unterschiedlich sind, führt zu besserem Verständnis als jede präzise Zahl.
Schätzen ist mentale Vorbereitung
In dem Moment, in dem ein Team schätzt, passiert etwas, das mit keinem Tool oder Taskboard erzwungen werden kann: Menschen beginnen, sich in die Arbeit hineinzudenken.
Sie gehen Annahmen durch, prüfen Randbedingungen, schauen in den Code. Sie diskutieren mögliche Stolpersteine, klären offene Fragen, erinnern sich an ähnliche Aufgaben. So entsteht ein gemeinsames mentales Modell des bevorstehenden Sprints – und das ist oft der eigentliche Wert.
Eine gute Schätzung ist nicht das Ergebnis von Klarheit, sondern der Weg dorthin.
Endliche Budgets erzwingen Schätzungen
Am Ende läuft alles darauf hinaus: Wenn das Budget oder die Zeit endlich ist, dann wird ohnehin geschätzt – ob man es „Forecast“, „Commitment“ oder „Bauchgefühl“ nennt.
Wenn wir wirklich glauben, dass der geplante Umfang nicht in die verfügbaren Mittel passt, wäre die ehrliche Konsequenz: gar nicht erst anfangen. Deshalb ist Schätzen nicht optional. Es ist die Art, wie wir herausfinden, ob das Projekt überhaupt Sinn ergibt.
Schätzen als Dialog, nicht als Kontrolle
In Agile Casino haben wir versucht, genau diesen Gedanken zu bewahren. Nicht Schätzen als Druckmittel – sondern als spielerischen, gemeinschaftlichen Moment, in dem Wissen geteilt und Unsicherheit sichtbar wird. Das ist der eigentliche Wert.
Wenn Schätzungen ihren Sinn verlieren, liegt es selten am Schätzen selbst – sondern daran, dass man aufgehört hat, zuzuhören, was sie einem zeigen wollten.
Fazit: Schätzen ist kein Werkzeug der Kontrolle, sondern ein Mittel zur gemeinsamen Orientierung. Und solange wir mit endlichen Ressourcen arbeiten, werden wir es tun – ob wir es so nennen oder nicht.
