Seit über 20 Jahren investieren Unternehmen weltweit in die Digitalisierung. ERP-Systeme, Prozessautomatisierung, Robotic Process Automation und Business Intelligence haben ganze Branchen transformiert. Dennoch bleiben zentrale Prozesse bis heute unvollständig digitalisiert. Die Gründe sind vielfältig, doch eines sticht heraus: eine bestimmte Klasse von Prozessen, die zwar theoretisch algorithmisch lösbar ist, in der Praxis jedoch an der Komplexität scheitert.
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Mit dem Aufkommen von Large Language Models (LLMs) keimte die Hoffnung, auch diese Blockerprozesse adressieren zu können. Doch schnell wurde deutlich: LLMs sind nicht deterministisch, sie halluzinieren und liefern Ergebnisse, die nur schwer auditierbar sind. Für kritische Prozesse mit regulatorischen Anforderungen reicht das nicht aus.
In der Forschung wird deshalb ein neuer Ansatz diskutiert: AI-augmented algorithms – hybride Architekturen, in denen deterministische Algorithmen und KI gezielt zusammenwirken. Gemeinsam mit der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) konnten wir in einem Pilotprojekt zeigen, dass dieser Ansatz in der Praxis funktioniert.
Problemstellung: Zoll- und Containerklassifikation
Die Zoll- und Containerklassifikation ist eine der Kernaufgaben im internationalen Handel. Theoretisch scheint sie klar strukturiert:
- Jeder Container enthält eine Ware.
- Diese wird einer Zolltarifnummer (HS-Code) zugeordnet.
- Daraus ergeben sich Zollsatz, Lagerung und Sicherheitsprüfung.
Auf dem Papier ist das ein deterministischer Prozess. In der Praxis jedoch entsteht eine nahezu unbeherrschbare Komplexität:
- Mischladungen: Ein Container kann hunderte verschiedene Produkte enthalten.
- Unvollständige oder mehrdeutige Angaben: Papiere enthalten oft nur grobe Beschreibungen („Maschinenbauteil“).
- Sonderregelungen: Handelsabkommen wie EU–Südamerika, Brexit oder Sanktionen führen zu abweichenden Regeln.
- Abweichungen: Gefahrgut, Kühlketten oder Dual-Use-Güter erfordern besondere Behandlung.
- Temporäre Ausnahmen: In Krisenzeiten, wie während der Pandemie bei medizinischen Produkten, gelten zeitlich begrenzte Regelungen.
All diese Fälle sind prinzipiell regelbasiert abbildbar. Doch das Regelwerk würde so umfangreich, dass es kaum noch wartbar wäre. Kleine Änderungen in den Rahmenbedingungen könnten massive Anpassungen im System nach sich ziehen. Genau deshalb galt dieser Prozess lange als „nicht digitalisierbar“.
Ansatz: AI-augmented Algorithms
Im HHLA-Pilotprojekt haben wir uns diesem Problem gestellt und bewusst eine hybride Architektur gewählt. Ziel war es, die Stärken beider Welten – deterministische Algorithmen und KI – zu kombinieren.
Deterministischer Kern
Unverrückbare Regeln wie gesetzliche Vorschriften, Abgabenberechnungen oder zwingende Sicherheitsstandards wurden in einem klassischen Algorithmus abgebildet. Dieser Teil bleibt deterministisch, transparent und auditierbar.
KI-gestützte Vorverarbeitung
LLMs kamen dort zum Einsatz, wo die Regelkomplexität explodierte. Konkret:
- Interpretation von unklaren oder unvollständigen Warenbeschreibungen.
- Normalisierung unterschiedlicher Formulierungen.
- Clustering von Sonderfällen, um Variantenvielfalt zu reduzieren.
Zusammenspiel
Die KI liefert Vorentscheidungen und standardisierte Inputs, der Algorithmus trifft die endgültigen, rechtlich bindenden Berechnungen. So entsteht ein System, das die Flexibilität menschlicher Interpretation mit der Strenge deterministischer Logik verbindet.
Ergebnisse aus dem Pilotprojekt
Das Zusammenspiel von KI und Algorithmus brachte mehrere Vorteile:
- Transparenz und Auditierbarkeit: Die endgültigen Entscheidungen basieren auf klar nachvollziehbaren Regeln.
- Flexibilität: Sonderfälle können realistisch verarbeitet werden, ohne dass das System kollabiert.
- Robustheit: Anpassungen an neue Handelsabkommen oder temporäre Ausnahmen lassen sich schneller einpflegen.
- Effizienz: Der manuelle Aufwand für Zollklassifikation sank deutlich, während die Bearbeitungszeit pro Container drastisch reduziert wurde.
Damit gelang erstmals die vollständige Automatisierung eines Prozesses, der bislang als „nicht digitalisierbar“ galt.
Einordnung: Drei Typen von Aufgaben
Das HHLA-Projekt zeigt auch, wie wir Aufgaben systematisch klassifizieren können:
- Algorithmisch automatisierbar: Der klassische Fall – klare Regeln, deterministisch lösbar. Trotz 20 Jahren Digitalisierung sind viele dieser Prozesse noch nicht vollständig umgesetzt.
- Theoretisch algorithmisch automatisierbar, praktisch aber zu komplex: Die Blockerprozesse, die in der Vergangenheit meist aufgeschoben wurden. Hier bieten AI-augmented algorithms nun eine Lösung.
- Kommunikationserforderlich: Aufgaben, die Sprache, Aushandeln oder Interpretation benötigen. Mit LLMs rücken auch sie zunehmend in Reichweite.
Die eigentliche Innovation liegt in Typ 2 – Prozesse, die bislang unüberwindbare Komplexität darstellten, können heute mit hybriden Architekturen adressiert werden.
Implikationen für Unternehmen
Das Beispiel zeigt deutlich: Die nächste Welle der Digitalisierung wird nicht durch „mehr KI“ allein entstehen. Stattdessen geht es darum, Architekturen zu entwickeln, in denen Algorithmen und KI gezielt zusammenarbeiten.
Für Unternehmen bedeutet das:
- Investitionssicherheit: Bestehende Systeme müssen nicht ersetzt, sondern modular erweitert werden.
- Compliance: Rechtliche Vorgaben bleiben überprüfbar und auditierbar.
- Skalierbarkeit: Prozesse, die bislang von Expert:innen dominiert wurden, können standardisiert und vervielfältigt werden.
- Wettbewerbsvorteil: Wer diese Blockerprozesse zuerst automatisiert, gewinnt Geschwindigkeit und Effizienz.
Fazit
Nach zwei Jahrzehnten Digitalisierung bleibt viel zu tun. Klassisch algorithmisch lösbare Prozesse sind keineswegs abgeschlossen. Kommunikationsaufgaben öffnen sich langsam durch LLMs. Doch der eigentliche Durchbruch liegt dazwischen: in den Prozessen, die zwar deterministisch beschreibbar, aber praktisch zu komplex für reine Algorithmen waren.
Das HHLA-Pilotprojekt zeigt: Mit AI-augmented algorithms lassen sich diese Blockaden überwinden. Prozesse, die lange als „nicht digitalisierbar“ galten, werden transparent, auditierbar und gleichzeitig flexibel genug für die Realität.
Wir werden diesen Ansatz bald auch in unseren kostenlosen Prozessrechner aufnehmen. Wenn Sie vor ähnlichen Herausforderungen stehen, sprechen Sie uns gerne direkt an – wir teilen unsere Erfahrungen aus dem Pilotprojekt.
Welche Prozesse sind in Ihrem Unternehmen bisher unantastbar geblieben?